2024-06-19T10:33:50.932Z

Kommentar
– Foto: IMAGO / Werner Scholz

Türkgücü München: Streitgespräch über einen Verein, der polarisiert

HARTPLATZHELDEN-Kolumne #25: Erfolgsgeschichte bayerisch-türkischer Integration oder nur Marketing? Ein Streitgespräch zwischen unseren Kolumnisten MICHI FRANKE und TIM FROHWEIN

In der Hartplatzhelden-Kolumne kommen kreative und kritische Köpfe aus dem Amateurfußball zu Wort, die sich mit den Sorgen und Nöten unseres geliebten Sports befassen, aber auch Ideen für die Zukunft vorstellen. In der 25. Ausgabe diskutieren Tim Frohwein und Michi Franke über den aufstrebenden Drittligisten Türkgücü München, der vor drei Jahren noch in der Landesliga kickte.

Unsere Kolumnisten Tim Frohwein und Michi Franke sind im Münchner Fußball zuhause. Michi, 55, hat seine Fußballschuhe vor vielen Jahren an den Nagel gehängt und engagiert sich seitdem als Funktionär bei der FT Gern. Tim, 37, kickt weiterhin für seinen FC Dreistern, spielt aktuell seine letzte Saison im Herrenbereich – eine Saison, die sich mittlerweile über drei Kalenderjahre erstreckt.

Tim: Wenn ich mir die Facebook-Kommentare zu Türkgücü-Artikeln anschaue, fällt mir auf, dass viele Menschen ein Bild von einem Sack Reis in China posten. Die Botschaft ist klar: Dieser Verein ist es nicht wert, dass man sich für ihn interessiert. Ich finde, es gibt viele Gründe, sich für ihn zu interessieren. Wie siehst du das, Michi?

Michi: Ich denke, Tim, dass diese Bilder eine Reaktion auf die als komplett übertrieben empfundene Berichterstattung sind. Wenn man das zehnte Mal vom Transferhammer bei Türkgücü (TG) liest, wirkt das künstlich. Das Reissack-Statement bezieht sich weniger auf den Verein als auf den medialen Umgang. Aber TG polarisiert natürlich und bringt Klicks.

Tim: Du beteiligst dich rege an den Diskussionen. Neulich hast du geschrieben, dass Türkgücü für dich kein Traditionsverein ist. Ich sehe das anders. Der Verein wurde als SV Türk Gücü München Mitte der Siebziger von türkischen Einwanderern gegründet. Im Laufe der Jahre gab es strukturelle Änderungen, eine Insolvenz und zwischendurch hieß Türkgücü anders. Eine solche Geschichte haben doch andere Klubs auch hinter sich, die wir selbstverständlich als Traditionsvereine bezeichnen. Zudem hat Türkgücü eine Tradition als ein von Migranten gegründeter Verein in Deutschland, auch weil er zu den sportlich erfolgreichsten zählt. Immerhin hat TG zu Beginn der Neunziger mal an die Tür zum Profifußball geklopft.

Michi: Ein schönes Thema. Wie definiert sich ein Traditionsverein? Über das Gründungsjahr, die Community, gelebte Fußballgeschichte oder die Ortstreue? Da müssten wir uns zuerst über die Definition des Begriffes unterhalten. Was bei TG aber auffällt: Die Diskussion, ob TG ein Traditionsverein, ein Münchner Verein ist, kam nicht von außen. Ich habe den Eindruck, dass die TG-Verantwortlichen zu Marketingzwecken diese Diskussion immer wieder befeuern. Und da wird es problematisch. Türkgücü hatte in den Achtzigern Kultcharakter. Für die Gastarbeiter der ersten Generation und deren Kinder waren TG-Spiele kulturelle Events. Wo sonst konnten diese Menschen damals ihre Kultur, und dazu gehört gerade in der Türkei der Fußball, ausleben? Fußball war ein Treffpunkt und ein Ort, an dem sich Identität herausbildet, auch Folklore.

Tim: Du hast also ein Problem damit, dass sich TG als Traditionsverein gibt, weil dahinter nur wirtschaftliches Kalkül steckt. Das kann ich verstehen. Aber wenn man sich ein Image als bayerisch-türkischer Verein aufbaut, hat das doch – unabhängig davon, welchen Zweck man verfolgt – eine Wirkung auf die Umwelt: Er ist ein Symbol dafür, dass Menschen mit Einwanderungsgeschichte in Deutschland Anerkennung finden und erfolgreich sein können und dass migrantisch geprägte Vereine Teil der deutschen Fußballlandschaft sind. Das hat Strahlkraft sogar über Deutschland hinaus und steht München gut zu Gesicht. Auch deshalb, glaube ich, stellt sich die aktuelle Stadtregierung hinter das Projekt.

Michi: Projekt ist der richtige Begriff. Da soll etwas aufgebaut werden, wenn auch nicht mit der finanziellen Power wie in Leipzig und Hoffenheim. Ich finde es auch gut, dass Türkgücü nicht nur auf türkischstämmiges Personal setzt, im Management wie im fußballerischen Bereich. Auch in der Vergangenheit war das teilweise der Fall: Ex-Nationalspieler Cacau hat in den Neunzigern dort gespielt. Aber gerade wie der Verein geführt wird und in der Öffentlichkeit auftritt, finde ich nicht sympathisch. Das Problem ist ja auch, dass man das Ziel dieses Projekts nicht kennt. Will der Präsident Hasan Kivran noch mehr erreichen als nur sportlichen und wirtschaftlichen Erfolg? Geht es auch um politische Ziele?

Tim: Die Fakten zeigen im Moment: TG ist ein Verein, der sportlich erfolgreich ist, er hat mehrere Aufstiege geschafft, vielleicht ist sogar der Sprung in Liga 2 demnächst möglich. Auch wirtschaftlich kann er erfolgreich werden. Man setzt auf Personal aus der Region – ob mit Migrationsgeschichte oder ohne – und hat den bayerischen Teil der Vereinsidentität sogar ins Wappen integriert. Das kann alles Marketinggründe haben, dennoch bringt ein Image auch eine Verpflichtung zu Kontinuität mit sich. Man kann es nicht einfach so abstreifen, weil sich dann viele abwenden würden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man nach dem Aufstieg in die 2. Liga sagt: „Ach, übrigens, wir sind der sportliche Arm der AKP in Deutschland.“ Das ist doch Schmarrn.

Michi: Ja, andererseits: Warum hat Kivran vor einiger Zeit damit gedroht, dass er die Heimspiele in NRW austragen würde, sofern TG keine Spielstätte in München bekommt? Da scheint ihm die bayerisch-türkische Identität doch nicht so wichtig zu sein. Letztlich ist Türkgücü heute eine marketingmäßig optimierte Organisation, die die türkischstämmige Community in Deutschland für sich begeistern möchte.

Tim: Und das schafft sie. Es gibt mehrere TG-Fanclubs in Deutschland, bei YouTube schalten bei den Spielübertragungen regelmäßig tausende Menschen aus ganz Europa ein. In den Stadien war von dieser Begeisterung vor Corona allerdings wenig zu bemerken. In der Hinrunde der Regionalliga-Spielzeit 19/20 lag der Zuschauerschnitt bei Heimspielen, die Türkgücü damals noch im Münchner Vorort Heimstetten austrug, bei rund 500. Kadir Alkan, mit dem ich in der AH des FC Dreistern vor ein paar Jahren zusammengespielt habe und der von 2016 bis 2018 als Teammanager bei Türkgücü erfolgreich war, hat mir mal gesagt, dass es für einen türkischstämmigen Verein in Deutschland nicht einfach so sei, eine Fan-Community aufzubauen. Von Deutschen werde so ein Klub beäugt und die türkische oder türkischstämmige Community hierzulande sei zu heterogen.

Michi: Und deshalb hat Hasan Kivran von Anfang an versucht, dass Image eines bayerisch-türkischen Vereins aufzubauen. Reines Kalkül.


Tim: Lass uns doch mal darüber sprechen, welche Auswirkungen Türkgücü für den Münchner Jugend- und Amateurfußball hat. Vor ein paar Jahren habe ich noch in der Kreisklasse gegen die 2. Mannschaft von Türkgücü gespielt. Jetzt wird die 1. Mannschaft die 3. Liga halten – und bei Haching könnte es am Ende auf den Abstieg hinauslaufen. Haching, 1860, Bayern – das waren seit vielen Jahren, die Vereine zu denen man als talentierter Jugendlicher wechseln wollte. Steht in dieser Reihe bald Türkgücü statt Haching? Gerade für Jugendliche mit türkischem Migrationshintergrund dürfte der Verein eine Anziehungskraft haben. Und wenn Türkgücü weiterhin seinen Kurs verfolgt, ein Münchner, ein bayerisch-türkischer Klub zu sein, bietet das auch große Chancen. Dann kann der Verein ein Ort der Begegnung sein für Türkischstämmige und Menschen deutscher oder anderer Herkunft. Er könnte der erste Verein mit Türkeibezug in München sein, zu dem viele deutsche Eltern ihre Kinder schicken wollen – weil sie dort eine gute Ausbildung bekommen. Dadurch würden vielleicht auch Berührungsängste mit anderen migrantisch geprägten Vereinen abgebaut werden. Das wäre doch gut, oder?


Michi: Ein kaum vorhersehbares Thema. Die Vorgänge vor wenigen Wochen, wie der angedrohte Rückzug von Kivran, haben gezeigt, wie schnell das Projekt wieder beendet sein kann. Es wäre nicht vertretbar, Steuergeld für ein Nachwuchsleistungszentrum oder gar ein eigenes Türkgücü-Stadion zu verwenden. Das ist heute wegen der Finanzsituation noch unvorstellbarer als noch vor einem Jahr. Ich sage mal, der Verein hat kein Fundament und auch keine Verwurzelung in der Bevölkerung. Das muss sich selbst ein Profiverein über Jahre erarbeiten. Ich kenne viele Leute, die Hoffenheim und Leipzig noch immer nicht akzeptieren, obwohl dort mittlerweile über Jahre innovative Nachwuchsarbeit geleistet wird.


Tim: Am 21. April stehen sich die zwei Münchener Vereine gegenüber. Vielleicht befördert Türkgücü an diesem 33. Spieltag Haching aus dem Profifußball.


Michi: Das wäre nur der erste Schritt. Sollte sich TG jedoch im Profifußball etablieren und aus eigener Kraft ein NLZ wuppen, könnte der Verein tatsächlich den Platz von Haching übernehmen. Als Ausbildungsort für Jugendliche, auch als dritte Fußballkraft in München.


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Über die Hartplatzhelden-Kolumne:
In regelmäßigen Abständen lassen wir kreative und kritische Köpfe aus dem Amateurfußball zu Wort kommen, die sich mit den Sorgen und Nöten unseres geliebten Sports befassen, aber auch Ideen für die Zukunft vorstellen.

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Aufrufe: 017.3.2021, 11:00 Uhr
MICHI FRANKE / TIM FROHWEINAutor