2024-05-15T11:26:56.817Z

Interview
Trainer Artur Lemm hat mit dem VfB Ginsheim noch einiges vor F: Norbert Kaus
Trainer Artur Lemm hat mit dem VfB Ginsheim noch einiges vor F: Norbert Kaus

"Wenn du mehr erreichen willst, musst du Visionen haben."

Ginsheim-Trainer Artur Lemm über die Hessenliga-Saison und die Perspektive des VfB

Aufsteiger VfB Ginsheim hat in der Fußball-Hessenliga aus 20 Spielen 25 Punkte geholt. Artur Lemm, seit dem Weggang von Carsten Hennig zur Winterpause alleiniger Cheftrainer des Tabellenelften, spricht im Interview über die Gründe für die gute Rolle, die der VfB in der Fünften Liga spielt, die Aussichten für die restlichen zwölf Rückrundenspiele und die Perspektiven der Fußballabteilung.

Herr Lemm, hätten Sie vor der Saison gedacht, dass Sie in der Winterpause schon 25 Punkte auf dem Konto haben?

Artur Lemm: "Ja. Mir war klar: Wenn unser junger Kader fleißig und lernwillig ist, können wir viel erreichen. Die Qualität und das Talent sind da, es geht dann um die Mentalität, und die war einfach sehr gut."

Hat Ihr Team sein Potenzial schon ausgeschöpft?

Lemm: "Es ist noch mehr möglich. Sicher sind wir mit der Platzierung zufrieden, zumal der Klassenerhalt in der Hessenliga schwieriger zu ereichen ist als die Verbandsliga-Meisterschaft. Aber mir geht es um etwas Anderes: Ich will jedes Jahr sehen, dass wir besser werden. Wir sind Gruppenliga-Meister geworden, in der Verbandsliga Sechster, Vierter und Erster – eine stetige Entwicklung. Und die sehen wir auch jetzt, wir präsentieren uns top. Bis auf das 0:7 in Dreieich waren wir nie deutlich unterlegen. Und dass, obwohl wir finanziell weit unten in der Liga stehen und den jüngsten Kader mit im Schnitt 22,9 Jahren haben."

Was sind die Stärken, was die Schwächen Ihrer Mannschaft?

Lemm: "Wir haben tolle Charaktere, keine Stinkstiefel. Die Standards sind eine Stärke. Wir fangen hier wenig Tore und schießen hin und wieder welche, haben zum Beispiel viele Eckenvarianten. Die Schwächen: Wir schießen zu wenig Tore und müssen grundsätzlich konstanter werden. Nach guten Spielen setzt oft Zufriedenheit ein, das ist in dieser Liga tödlich."

Haben die Konkurrenten Ginsheim unterschätzt?

Lemm: "Das kann schon sein. Aber egal wie die Gegner uns einschätzen, der Erfolg hängt immer von uns und unserem Willen ab."

Wie schwer wiegt der Abgang von Carsten Hennig?

Lemm: "Sehr schwer. Er war fachlich ein hervorragender Trainer und hatte als Spieler eine Erfahrung, die sonst keiner bei uns hat. Aber wir sind auch ohne Carsten sehr gut aufgestellt."

Was bedeutet es für Sie persönlich?

Lemm: "Es entsteht ein gewisser Druck für mich, denn wir zwei waren als Trainerteam viereinhalb Jahre ein Erfolgsmodell und sind zweimal aufgestiegen. Ich muss erst einmal beweisen, dass es auch ohne ihn geht. Aber mein neuer Co-Trainer Sebastian Pacher hat auch eine hohe Fußballkompetenz und ist etwas emotionaler als Carsten, was vielleicht auch gut ist. Wir kennen uns seit 21 Jahren, sind Geschäftspartner und auch ein gutes Team."

Sie hatten keine Zugänge in der Winterpause – warum?

Lemm: "Nach den Abgängen von Samuel Sorge und Amin Ahmed hatten wir zwei Spieler als Ersatz im Visier, bei denen es aus verschiedenen Gründen dann doch nicht gepasst hat. Wir haben 34 Spieler im erweiterten Kader und allen traue ich zu, Hessenliga zu spielen."

Auf was kommt es in der Rückrunde an?

Lemm: "Wir müssen immer hungrig bleiben und uns Ziele setzen, die mit einer Monster-Mentalität auch erreichbar sind. Ich wüsste nicht, warum die Entwicklung, die wir in dieser Saison und schon seit Jahren haben, in der Rückrunde in eine andere Richtung gehen sollte."

Wer sind die schärfsten Rivalen im Kampf gegen den Abstieg?

Lemm: "Vellmar und Steinbach werden es schwer haben, weil der Punktabstand schon so groß ist. Ich glaube, dass Rot-Weiß Frankfurt, Ederbergland und Griesheim noch mal alles reinlegen werden. Deshalb sind die am gefährlichsten. Aber alles ab Platz acht oder neun kann noch unten reinrutschen."

Laufen schon die Planungen für die neue Saison?

Lemm: "Noch nicht. Klar ist: Wir können keinen 27-Jährigen holen, der schon 100 oder 200 Hessenliga-Spiele gemacht hat, dafür fehlt uns das Geld. Wir müssen kreativ bleiben bei der Spielersuche. Wir haben Mainz, Frankfurt, Wehen, Darmstadt und Offenbach in der Nähe. Die dortigen Nachwuchsleistungszentren haben bis auf Mainz keine zweite Mannschaft. 40 bis 50 Spieler, deren A-Jugend-Zeit endet, sind für uns interessant – und wir für sie. Aber ich kann mir auch vorstellen, dass wir gar keinen Neuzugang haben, sondern den Kader behalten und weiterentwicklen."

Haben die Sommer-Zugänge Ihre Erwartungen erfüllt?

Lemm: "Ja. Wir hatten ein gutes Händchen. Es gibt keinen, bei dem ich sagen würde: Das ging komplett in die Hose."

Sind Sie mit dem Zuschauerzuspruch zufrieden?

Lemm: "Nein. Es sind knapp über 200 im Schnitt, da hat sich im Vergleich zur Verbandsliga nicht viel verändert. Und die Stadt hat immerhin 16.000 Einwohner. Wir sind der erste Hessenligist seit knapp 20 Jahren im Kreis Groß-Gerau; da hätte ich mir mehr Fußballfans aus dem Umland gewünscht."

Die U23 des VfB ist Zweiter in der Kreisoberliga. Wie wichtig ist der Unterbau?

Lemm: "Sehr wichtig. Der Austausch klappt auch ausgesprochen gut. Meine drei sportlichen Wünsche wären: Klassenerhalt in der Hessenliga, Aufstieg der U23 in die Gruppenliga und Aufstieg der A-Jugend in die Hessenliga. Das wäre eine tolle Konstellation. Wir wären in ganz Südhessen – die Lilien mal ausgenommen, die ja keine zweite Mannschaft haben – ab der U19 aufwärts der mit Abstand attrraktivste Verein. Die Perspektive wäre sensationell für jeden jungen, leistungsorientierten Spieler ab Jahrgang 2002."

Sie haben gesagt, dass Sie immer eine Weiterentwicklung erkennen wollen. Wo könnte die denn noch hinführen?

Lemm: "Aus meiner Sicht nach oben offen. Wenn du vor vier Jahren in der Gruppenliga einem gesagt hättest, dass wir 2017 Hessenliga spielen, hätte er dich für verrückt erklärt. Wenn du heute jemandem sagst, wir spielen in drei Jahren Regionalliga, würde er dich auch für verrrückt erklären. Für mich gibt es keine Denkgrenze in diesem Bereich. Wenn wir dieses Jahr Elfter werden, wäre ich nächstes Jahr nicht mit Rang zwölf zufrieden. Wenn meine Spieler 24, 25 sind und einige Schritte nach vorne gemacht haben, warum sollen wir dann nicht auch in der Liga ein paar Schritte nach vorne kommen? Eines ist klar: Wenn du mehr erreichen willst, musst du Visionen haben."

Aufrufe: 010.2.2018, 07:29 Uhr
Heiko WeissingerAutor