Spielermangel
Sogenannte Kriegsspielgemeinschaften und gemischte Teams aus Jugend- und Seniorenspielern waren längst die Regel, und man überlegte kurzzeitig sogar, ob man nicht pro Mannschaft einfach nur noch mit sieben Spielern antreten sollte, um irgendwie noch weiter spielen zu können.
Das Spieljahr 1943/44 war demgegenüber noch in vergleichsweise geordneten Bahnen verlaufen und hatte dem Gießener Fußball nach den Bezirksmeisterschaften des Luftwaffensportvereins (1942) und des VfB Reichsbahn (1943) mit dem Titelgewinn der Kriegsspielgemeinschaft Gießen den dritten Erfolg in Serie beschert. Aber in der Aufstiegsrunde zur Gauliga reichte es wieder nicht zum Sprung in die höchste Spielklasse. Unter anderem verlor man bei Viktoria Eckenheim mit 1:12, da man - siehe oben - nur mit acht Spielern antreten konnte.
In der Kriegsspielgemeinschaft hatten sich seinerzeit die letzten in Gießen verbliebenen Akteure der SpVgg. 1900 und des VfB Reichsbahn gesammelt, aber auch sie liefen zur Saison 1944/45 mangels Masse nicht mehr auf. Letztmalig traten sie im Juli 1944 bei einer 3:4-Niederlage in einem Freundschaftsspiel gegen den Lufwaffensportverein Gießen an.
Dieser war im Sommer 1944 somit der einzig verbliebene aktive Fußballclub in Gießen. Er hatte sich Ende der 30er Jahre gegründet und mit den in Gießen stationierten Soldaten der Luftwaffe seit 1940 am zivilen Spielbetrieb beteiligt. Im Spätsommer 1944 spielte er noch im Hessenpokal gegen Frohnhausen, Büdingen und Butzbach, aber auch er hat schließlich an der am 1. Oktober beginnenden neuen Meisterschaftsrunde im Sportgau Hessen-Nassau nicht mehr teilgenommen.
Wie alle Luftwaffensportvereine wurde er noch im September aufgelöst. So bleibt das Freundschaftsspiel gegen den amtierenden Gaumeister Kickers Offenbach, das am 3. September 1944 auf dem Waldsportplatz mit einem 4:2-Erfolg des Luftwaffensportvereins endete, das letzte offizielle Fußballspiel, das in Gießen vor Ende des Krieges stattgefunden hat. Dass es mit dem Luftwaffensportverein ausgerechnet eine Militärmannschaft war, die dieses Spiel bestritt, zeigte einmal mehr, wie sehr der Krieg mittlerweile auch an der sogenannten Heimatfront Besitz vom Fußball ergriffen hatte.
Früher Neubeginn
Bis zum nächsten Fußballspiel in Gießen sollten gut zehn Monate vergehen, in denen sich nahezu alles verändert hatte. Gießen war ein Trümmerfeld, das Dritte Reich war zusammengebrochen und das Sagen hatte nun die amerikanischen Besatzungssoldaten. Der Lust auf Fußball hatte das allerdings keinen Abbruch getan - im Gegenteil. Gerade einmal acht Wochen nach der bedingungslosen Kapitulation entstand der Gießener Sportverband - übrigens der erste Sportverband, der nach dem Krieg in Deutschland überhaupt gegründet wurde - und am 22. Juli fand bereits das erste Nachkriegsspiel in Gießen statt. Auf dem Waldsportplatz, auf dem man die Bombenkrater notdürftig aufgefüllt hatte, schlug der VfB Reichsbahn seinen Gast aus Heuchelheim mit 4:1.
Als die immerhin 400 Zuschauer an diesem Sonntag nach dem Abpfiff den Platz an der Grünberger Straße verließen und durch das zerstörte Gießen heimwärts gingen, dürften wohl nur die Optimisten daran geglaubt haben, dass bereits Mitte September wieder eine offizielle Meisterschaftsrunde im Kreis Gießen beginnen würde und dass auch aus den Ruinen der Stadt bald wieder neues Leben erwachsen würde.