2024-05-02T16:12:49.858Z

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Am liebsten wegsehen: Für Trainer Thomas Eberhard (links) sowie Patrick Krick und Ercan Ürün war die vergangene Oberliga-Saison selten ein Vergnügen.	 Foto: Edgar Daudistel
Am liebsten wegsehen: Für Trainer Thomas Eberhard (links) sowie Patrick Krick und Ercan Ürün war die vergangene Oberliga-Saison selten ein Vergnügen. Foto: Edgar Daudistel

Hassia Bingen: Die Bilanz des Scheiterns

Von Richtungswechseln und Reißleinen: Wie Hassia Bingen in eine Spielzeit zum Vergessen geschlittert ist

BINGEN. Mit dem 0:6 in Elversberg war für Hassia Bingen zunächst einmal Schicht im Schacht, was die Fußball-Oberliga betrifft. Dabei war das Team mit großen Erwartungen in die Saison gestartet. Zumindest die Teilnahme an der Aufstiegsrunde hatte es sein sollen. Nach den druckvollen Auftritten in der abgebrochenen Vorsaison wurde hinter vorgehaltener Hand insgeheim von mehr geträumt. Nicht allzu weit hinter den Favoriten Wormatia Worms und Eintracht Trier wollte die Hassia landen, hatte dafür den Kader aufgerüstet, kurz nach Saisonbeginn personell nachgelegt.

Aus, vorbei. Es wurde eine Spielzeit zum Vergessen. Eine Spielzeit, in der der Traditionsverein nie wirklich zur Ruhe kam. Die Zeichen wiesen nach sehr guten Leistungen beim Waldalgesheimer Vorbereitungsturnier, in dem das Finale im Elfmeterschießen gegen den TSV Schott verloren wurde, fast durchgängig nach unten. Das erste Ligaspiel gegen die U21 des FCK musste wegen Corona verschoben werden. Die Binger liefen diesem Beginn hinterher, zumal die letzten drei Vorbereitungsspiele komplett in die Hose gegangen waren. Ein 1:1 bei den Sportfreunden Eisbachtal zum Pflichtspielauftakt brachte keine Sicherheit. Fünf Punkte betrug danach schon der Rückstand zur Spitze.

Ungeachtet der möglichen Qualität jedes Spielers. Eine Mannschaft fand sich erst, als die sportliche Leitung im Winter die Reißleine zog, sich von vier Spielern trennte. Zu spät, um nach vermurkster Winter-Vorbereitung noch einen Richtungswechsel vollziehen zu können, trotz einer kleinen Serie mit Siegen gegen Waldalgesheim (4:3 nach 0:3) und Eppelborn (3:1) sowie dem 2:2 bei der TSG Pfeddersheim. Immer wieder sorgten individuelle Fehler dafür, dass keine Konstanz aufkam. Bezeichnend in der Vorrunde waren Szenen während der 0:3-Heimpleite gegen den FV Engers, als sich einige Spieler schon während der Partie auf dem Platz angifteten, der Sportliche Leiters Klaus Schuster danach in der Kabine laut wurde.

Der Umbau klappt nicht wie gewünscht

Der Umbau der Mannschaft, die 2018 den Aufstieg geschafft und 2019 mit einem famosen Schlussspurt den Klassenerhalt geschafft hatte, klappte nicht. 2020 sorgte der Saisonabbruch wegen Corona dafür, dass die Binger nicht vorzeitig untergingen. Ein Jahr und neun Spiele später sah man sich mit absolutem Power-Fußball auf dem richtigen Weg, um nach erneutem, vorzeitigem Saisonschluss ein weiteres Jahr später krachend zu scheitern.

Spielerisch war keine positive Entwicklung auszumachen, es gab Probleme in der Rückwärtsbewegung, fehlende Abstimmungen, nach vorne fehlten Akzente oder die Coolness vor dem Tor. Zu oft gab es das Vertrauen in Namen. Pierre Merkel zahlte lange mit Leistung und Toren zurück. Bei anderen Verpflichtungen differierten Anspruch und Wirklichkeit. Dazu kamen nie kommunizierte Abgänge. Etwa der von Joshua Iten, davor die von Sascha Kraft, Vllaznim Dautaj, Enes Sovtic oder Serdal Günes.

Die Hassia versäumte lange, verdiente Spieler in die Verantwortung zu holen. Oder war es umgekehrt? Scheuten sich Ex-Spieler, Verantwortung zu übernehmen? Letzteres hat sich geändert, mit Blick auf das Engagement von Fabian Liesenfeld, Jörg Cevirmeci, Andreas Rudolf, Christopher Lind und den Brüdern Thomas und Christian Klöckner als selbst zusammengefundenem Kompetenzteam für den Neuaufbau.

Wann begann der Niedergang tatsächlich? Nach dem Abgang von Nelson Rodrigues 2019 gelang es nicht, dessen sportliches Erbe adäquat fortzusetzen. Dimitri Mayer als Cheftrainer vom Sommer bis zum Spätherbst 2019, als Thomas Eberhardt übernahm, war aus fußballerischer Sicht eine ideale Lösung. Allein: Der Jurist hatte zu wenig Einfluss auf das Team, harmonierte nicht mit Co-Trainer Thomas Schwarz. Die Trennung von Schwarz geschah im Herbst 2019, die von Patric Muders als nächstem „Co“ zwei Jahre später, im September 2021.

Dass mit Präsident Oliver Wimmers als Geldgeber und demjenigen, der den Fortbestand der Hassia wirtschaftlich erst möglich machte, dem Verein ein Mann vorsteht, der das aktive Geschehen selbst nicht als „Kernkompetenz“ bezeichnet, ist in Fußballvereinen Alltag. Den sportlichen Bereich müssen andere verantworten: Schuster, das Trainerteam mit Eberhardt, Muders, Patrick Krick und Stefan Haas, dazu Ercan Ürün, der den Posten als Teammanager von Krick übernahm, der wiederum nach Muders Ausscheiden Co-Trainer wurde. Und natürlich die Spieler.

Der Name Hassia Bingen hat Strahlkraft. Der Verein steht zusammen mit der TuS Koblenz für den Mittelrhein, sorgte aber zu selten für positive Schlagzeilen. Bedenklich war, dass kaum noch ein Binger Fan den Weg zum Hessenhaus fand. Die Hassia hatte am Ende in der Oberliga weniger Zuschauer als mancher Club in der C-Klasse. Das Zusammenspiel zwischen Verein, Mannschaft und Fans geriet immer mehr in Schieflage, fand irgendwann nicht mehr statt. Zu vielen Akteuren fehlte die Bindung. Der Ruf vom „Söldner“ ging lange Zeit um. Erst nach Wimmers‘ Ankündigung, den aktiven Betrieb abzumelden, kam wieder Bewegung in den Club. Die Chance zum Turnaround ist da. Der aber wird Zeit und Verständnis brauchen.



Aufrufe: 015.6.2022, 15:00 Uhr
Jochen WernerAutor