2024-06-17T07:46:28.129Z

Ligabericht
Nando Rafael (rotes Trikot) im Einsatz für die SG Birklar gegen die FSG Biebertal.	Foto: Bär
Nando Rafael (rotes Trikot) im Einsatz für die SG Birklar gegen die FSG Biebertal. Foto: Bär

Irgendwo im Nirgendwo

KLA GIESSEN: +++ Ex-Bundesliga-Profi Nando Rafael arbeitet in Frankfurt in einem Bekleidungsgeschäft und schnürt in der A-Liga für die SG Birklar seine Schuhe +++

Lich/Frankfurt. Die Fasanerie hat ihre besten Zeiten hinter sich. Unweit des Hofguts Kolnhausen, auf dessen 18-Loch-Anlage sich die Golfer penibel gepflegter Greens erfreuen, steht das Gras knöcheltief. An den wenigen noch verbliebenen Werbebanden blättert die Farbe ab. Der Handlauf hat Rost angesetzt. Und an einem Geräteschuppen zeigt die Uhr zwanzig vor zehn, obwohl nachmittags Fußball gespielt wird. Nicht auf dem Rasenplatz, den bei gutem Wetter für gewöhnlich nur noch einige Jugendmannschaften nutzen, nachdem die Erste des VfR Lich vor wenigen Wochen ihren Spielbetrieb eingestellt hat. Sondern auf künstlichem Geläuf, das im „Herzen der Natur“ allen städtischen Vereinen zur Verfügung steht.

Es ist ein ungemütlicher Sonntagnachmittag, an dem sich gerade einmal 100 Besucher für das Spitzenspiel der A-Liga Gießen zwischen der SG Birklar und der FSG Biebertal interessieren. Der Wind peitscht über die Anlage, die Nässe des Regens scheint durch Jacken und Mützen durchzukrabbeln. Amateurfußball in seiner reinsten Form! Und doch unterscheidet sich dieser dunkle Tag, an dem schon früh das Flutlicht eingeschaltet werden muss, von tausenden anderen in dieser Republik. Denn Nando Rafael steht auf dem Platz. Neun Klassen unterhalb der Bundesliga und weit weg von den Annehmlicheiten des Profitums. „Ich wollte nach dem Ende meiner Karriere eindlich einmal spielen ohne Druck“, gibt der 35-Jährige, der in Deutschland für Hertha BSC, Borussia Mönchengladbach, den FC Augsburg, Fortuna Düsseldorf und den VfL Bochum auf dem Platz stand, bereitwillig Auskunft. Nicht in der Mixed-Zone vor aufwändig drapierten Werbetafeln in den Katakomben irgendeines großen Stadions, sondern vor dem vereinseigenen Sprinter der SG, an dem fleißige Helferinnen des Clubs Würstchen, vom Rind und vom Schwein, Glühwein und Kaffee anbieten.

„Nando ist der gute Geist in unserer Mannschaft. Er bringt sich ein und erhöht die Qualität der anderen Jungs“, kann Edgar Müller, der Sportliche Leiter der Birklarer, sein Glück kaum fassen, dass es den Ex-Nationalspieler Angolas nach Mittelhessen verschlagen hat. Was simpler zu erklären ist, als viele vermuten. Müller: „Mit Geld hat das alles jedenfalls nichts zu tun.“

Nando Rafael lebt mit seiner Freundin Ella in Frankfurt und arbeitet dort in einem Bekleidungsgeschäft. Zusammen mit Gezim Jetishi, der in Langsdorf wohnt und ihn irgendwann fragte, ob er am Abend nicht mal mitkommen und bei der SG Birklar trainieren wolle. „Ich fand es super, dass Trainer Labinot Dervishi und all die anderen mich ganz normal aufgenommen haben. Nicht wie einen aus der Bundesliga, sondern wie einen der ihren. Da habe ich mir gesagt, dass ich nach vielen Verletzungen hier eine gute Chance habe, von Woche zu Woche immer fitter zu werden“, berichtet Nando Rafael.

Auf dem Platz ist davon zunächst nicht viel zu sehen. Erst verursacht er einen Elfmeter und sieht dafür Gelb, danach beschränkt sich sein Mitwirken als Sechser auf lautstarke Anweisungen und Sicherheitspässe irgendwo im Nirgendwo. „Doch alleine seine Anwesenheit beeindruckt die Gegner meist so sehr, dass wir die Oberhand behalten“, klärt Edgar Müller auf. Wie auch in der Fasanerie. Mahir Marankoz (2), Mario Kastl und Arman Parise machen den 4:1-Erfolg gegen die FSG Biebertal perfekt und bescheren der SG Birklar die Tabellenführung. Und Nando Rafael sucht eilends den Weg unter die heiße Dusche, schließlich will er am anderen Morgen zwischen Hemden, Hosen und Sakkos wieder seinen Mann stehen. „Mein Vater war Schneider. Ich habe mich schon immer für Mode interessiert, das lag mir irgendwie im Blut“, klärt der Ex-Profi auf, warum er inzwischen einem ganz normalen Job nachgeht. „Sicher: Irgendwie möchte ich auch dem Fußball erhalten bleiben. Vielleicht mache ich mal meinen Trainerschein. So lange aber genieße ich mein neues Leben, sammele Erfahrungen und lerne eine ganz andere Welt kennen.“ Eine, die sich ihm bislang nicht erschloss. Und in die er eher zufällig hineingeriet.

Nando Rafael war noch klein, als er seine Eltern im angolanischen Bürgerkrieg verlor. Sein Onkel holte ihn daraufhin in die Niederlande, da war er gerade zehn. Er kam zuerst in einem Heim unter. In der Schule tunnelte er seinen Lehrer derart oft, dass dieser Ajax Amsterdam anschrieb. In deren Akademie durchlief Nando Rafael alle Jugendteams. 15 Jahre Profifußball in den Niederlanden, Deutschland, Dänemark und China nahmen ihren Lauf. Und nun die SG Birklar, die, so Edgar Müller, „mittelfristig bis in die Gruppenliga aufsteigen“ möchte. Die SG Bessingen/Ettingshausen/Langsdorf und die FSG Biebertal machen seinem Club das Leben schwer, „aber ich glaube, mit Nando Rafael können wir den Aufstieg zunächst einmal in die Kreisoberliga schaffen“. Acht von 17 Partien hat der Mann aus Luanda bisher absolviert, zwei Treffer sind ihm geglückt, vier hat er vorbereitet. Die Bilanz klingt ausbaufähig, Müller aber relativiert: „Vor drei Monaten, als er erstmals bei uns mitgemacht hat, hat er sich viel schlechter bewegt. Er ist auf einem guten Weg, wir werden noch viel Freude an ihm haben.“

Dass Nando Rafael eine mittelhessische „Eintagsfliege“ und sein Engagement bei der SGB bald wieder beendet ist, kann sich der 35-Jährige kaum vorstellen: „Ich habe bei jedem Training Spaß, die Menschen sind gut zu mir. Ich möchte hierbleiben.“ Was Edgar Müller gerne hört: „Auch wenn wir ihm kein Geld bezahlen können, so merken wir ihm jeden Tag, an dem er bei uns ist, an, dass er sich wohlfühlt.“ Auch an einem ungemütlichen Nachmittag, an dem der Wind über die Anlage peitscht und die Nässe des Regens durch Jacken und Mützen hindurchdurchzukrabbeln scheint.



Aufrufe: 029.11.2019, 08:00 Uhr
Alexander Fischer (Gießener Anzeiger)Autor