2024-04-25T14:35:39.956Z

Ligavorschau
Mussten in den vergangenen Jahren viel durchmachen: die Anhänger des KSV Hessen Kassel. 	Foto: dpa-Archiv
Mussten in den vergangenen Jahren viel durchmachen: die Anhänger des KSV Hessen Kassel. Foto: dpa-Archiv

Chefmährer, Dramen und Insolvenzen

HESSENLIGA: +++ Mit dem KSV Hessen Kassel gastiert am Samstag (15 Uhr) ein ganz besonderer Club beim SC Waldgirmes +++

Lahnau-Waldgirmes. Einst absolvierten sie ein Trainingslager in Tadschikistan, erhielten die Trainer Morddrohungen, verkauften Anhänger ihre Fangesänge meistbietend und suchten die Clubverantwortlichen via Online-Anzeige einen „Chefmährer“, also einen, der pausenlos motzt und meckert. Das waren noch Zeiten! In Liga zwei. Oder drei.

Und heute? Da heißt der graue Alltag des KSV Hessen Kassel Hessenliga. Oberster Balkon der Amateure, den Blick aber immer in Richtung Profifußball. Dennoch: Bad Vilbel statt Bielefeld, Hadamar statt Heidenheim, Dreieich statt Dresden. Wer dreimal in die Insolvenz rasselt, der hat vielleicht auch einfach nicht mehr verdient. Egal, wie groß das Stadion auch ist. Egal, wie kräftig das Wunschdenken der Verantwortlichen auch sprießt.

An diesem Samstag (15 Uhr) gastieren die „Löwen“ beim SC Waldgirmes. Und der Kassierer in der Lahnaue träumt bereits am dritten Spieltag von einer Rekordeinnahme. Schließlich gelten KSV-Anhänger als ebenso reisefreudig wie lautstark. Egal, wie: Für die Truppe von Trainer Otmar Velte ist der Auftritt der Nordhessen der Höhepunkt der Saison. Weshalb wir Ihnen den Hessenliga-Topfavoriten gerne ein wenig näher vorstellen wollen.

Der Start

Fünf Tests in der Vorbereitung gewann der KSV teils deutlich, im letzten setzte es bei Drittliga-Absteiger Fortuna Köln allerdings eine 1:2-Niederlage. Drei weitere Testspiele musste der Club indes kurzfristig absagen, da der Hessische Fußball-Verband aufgrund von Fan-Ausschreitungen in der vergangenen Saison in Flieden eine zweiwöchige Spielsperre verhängt hatte. Zum Rundenstart setzte es dann beim TSV Stadtallendorf eine 3:4-Niederlage, die die Nordhessen am vergangenen Wochenende jedoch durch einen 4:2-Heimerfolg über Türk Gücü Friedberg wieder ausbügelten. Zwischendurch siegte Kassel im Hessenpokal beim Gruppenligisten SG Calden/Meimbressen mit 8:0.

Die Form

Sie ist noch ausbaufähig, allemal im Defensivverbund, denn Torwart Niklas Hartmann musste in den ersten beiden Partien schon sechsmal hinter sich greifen.

Trainer Dietmar Hirsch fordert neues Personal

Was Neu-Trainer Dietmar Hirsch auch schonungslos ansprach: „Ich bin total unzufrieden, denn wir machen viel zu viele individuelle Fehler. Deshalb müssen wir uns Gedanken ums Personal machen. Das muss ich leider so drastisch sagen.“

Der Trainer

Dietmar Hirsch trat im Sommer die Nachfolge von Tobias Cramer an, der nach dem dramatischen Verpassen der Aufstiegsrunde seinen Abschied angekündigt hatte. Der 47-Jährige ist im Besitz der Fußballlehrer-Lizenz. Bis 2017 coachte er zwei Jahre lang den Nord-Regionalligisten VfB Oldenburg, seitdem war er vereinslos. Zu seiner Vita zählt auch die SV Elversberg, die er nach seinem Amtsantritt im September und bis zu seiner Freistellung im April in der Drittliga-Saison 2013/14 betreute. Hirsch war als Aktiver unter anderem für Borussia Mönchengladbach, den MSV Duisburg, Hansa Rostock und den VfB Lübeck aktiv. Er absolvierte insgesamt 195 Bundesliga- und 57 Zweitligaspiele.

Die Mannschaft

Sie ist eine Mischung aus Profis und Amateuren, in der einige bekannte Namen herausstechen. Mittelfeldmotor Alban Meha beispielsweise. Der 33-jährige Kosovo-Albaner, der am Samstag nach seinem Platzverweis zum Auftakt in Stadtallendorf wieder mitwirken darf, kam im Sommer von der SV Elversberg ins Auestadion. Für den SC Paderborn absolvierte Meha 18 Erst- und 84 Zweitligaspiele, für Konyaspor war er darüberhinaus in der türkischen Süper Lig 39 Mal am Ball. Der Deutsch-Türke Mahir Saglik hat in den ersten beiden Partien schon dreimal getroffen. Der 36-jährige Mittelstürmer blickt auf 26 Bundes- und 150 Zweitligaspiele für den SC Paderborn, den Karlsruher SC, den VfL Wolfsburg, den VfL Bochum, RW Ahlen und den FC St. Pauli zurück. Außerdem stand er in Österreich bei Admira Wacker Mödling und in der Türkei bei Sakaryaspor und Eyüpspor unter Vertrag. Der gebürtige Kirgise Sergej Evljuskin kam 2007 mit der deutschen U19-Nationalmannschaft ins EM-Halbfinale. Und Torwart Niklas Hartmann (29) stand vor acht Jahren einmal beim Zweitligisten Arminia Bielefeld zwischen den Pfosten und versuchte danach sein Glück bei Rot-Weiß Oberhausen, kam in der 3. Liga für die „Kleeblätter“ aber nur auf acht Einsätze.

Das Drama

Dreimal in Folge verpasste Kassel in den 80er Jahren als jeweils Vierter der 2. Bundesliga den Aufstieg ins Oberhaus nur knapp. Nervenaufreibend und unvergessen war vor allem das Saisonfinale 1985.

Nordhessen melden drei Mal Insolvenz an

Bis zum Anpfiff des letzten Spiels des KSV beim 1. FC Nürnberg führten die Nordhessen die Liga an. Im Frankenland gab es vor 57 000 Zuschauern eine 0:2-Niederlage mit der Folge, dass Kassel auf den vierten Rang zurückfiel. Dabei hätten das Team in jener Saison schon am vorletzten Spieltag im Auestadion gegen Hannover 96 mit einem Sieg alles klarmachen können. 2:0 führte der KSV damals, doch die Niedersachsen schlugen noch einmal zurück und holten noch ein 2:2.

Die Insolvenzen

Zum dritten Mal nach 1993 und 1997 reichte der mit gut zwei Millionen Euro verschuldete Traditionsverein im Juni 2017 einen Antrag auf Insolvenz ein. Kassel war erneut zahlungsunfähig. Am härtesten traf es die Nordhessen allerdings vor 21 Jahren, als der Verein auf der Mitgliederversammlung aufgelöst wurde und die erste Mannschaft in der Kreisliga A einen Neuanfang starten musste.

Die Nationalspieler

Der Verein hatte im Laufe seiner Geschichte mehrere Männer in seinen Reihen, die international auf sich aufmerksam machen konnten. Karl-Heinz Metzner lief zwei Mal für Deutschland auf. Weitere Nationalspieler während ihrer Zeit in Kassel waren der Afghane Harez Habib, der Schwede Mats Nordgren, der Burkiner Kassoum Ouédraogo und der Finne Tommi-Björn Paavola.

Die Mittelhessen

Viele starke Akteure aus heimischen Gefilden fanden einst den Weg ins altehwürdige Auestadion. Gerd Becker und Reiner Künkel, beide aus Breidenbach, der Langenaubacher Topstürmer Peter Cestonaro, Volker Münn aus Gießen, der Wißmarer Kai-Uwe Schnell und Klaus Zaczyk, der in Sterzhausen bei Marburg aufwuchs, hinterließen beim KSV ihre Spuren und haben heite dort noch einen guten Namen.

Die Stars

Dieter Hecking, Coach des Hamburger SV, absolvierte 168 Partien für den KSV. Ebenfalls früher in Kassel: Andre Breitenreiter, zuletzt Trainer von Hannover 96. Armin Eck, mit den Bayern 1989 Deutscher Meister. Gerhard Grau, in den 70er Jahren für Hertha BSC am Ball. Lothar Sippel, 1993 mit Dortmund im UEFA-Pokal-Finale gegen Juventus unterlegen. Und der bosnische Keeper Zoran Zeljko, 1994 mit Duisburg Bundesliga-Neunter.

Die Trainer

Die verstorbenen Jörg Berger (Schalke 04, Eintracht Frankfurt, Hannover 96, SC Freiburg), Werner Biskup (Bayer Uerdingen, Hannover 96, VfL Osnabrück) und Timo Konietzka, 1963 erster Torschütze der Bundesliga, saßen schon auf der Bank. Auch Franz Brungs, als Spieler 1968 mit dem 1. FC Nürnberg Deutscher Meister, Lorenz-Günther Köstner, der einst die SpVgg. Unterhaching in die Bundesliga führte, sowie Hans-Ulrich Thomale, 1987 als Coach von Lok Leipzig im Europapokalfinale der Pokalsieger 0:1 gegen Ajax unterlegen, hatten schon das Kommando.



Aufrufe: 06.8.2019, 08:00 Uhr
Alexander Fischer (WNZ)Autor