2024-04-25T14:35:39.956Z

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Dominik Stroh-Engel vom SC Waldgirmes scheitert im Hessenliga-Derby an Fernwalds Abwehr. Der FSV ist im neuen Jahrtausend über Jahre die Nummer eins im heimischen Fußball.  	Foto: Mohr/Fußballkreis
Dominik Stroh-Engel vom SC Waldgirmes scheitert im Hessenliga-Derby an Fernwalds Abwehr. Der FSV ist im neuen Jahrtausend über Jahre die Nummer eins im heimischen Fußball. Foto: Mohr/Fußballkreis

Erstmals Regionalliga-Fußball

GESCHICHTE: +++ Kreis Gießen: Der Aufstieg der Teutonen, das Auf und Ab beim FSV Fernwald und die Geburt des FC Gießen im heimischen Fußballkreis +++

GIESSEN. Die Jahrtausendwende weckte seinerzeit neben allerlei Hoffnungen natürlich auch diffuse Ängste und mancherorts wurden sogar Krisenstäbe eingerichtet, um den möglichen Gefahren zu begegnen, die der Beginn des neuen Millenniums mit sich bringen könnte. Es ist nicht überliefert, ob man seitens des Fußballkreises Gießen damals ähnliche Vorkehrungen getroffen hat, sie wären jedoch durchaus angebracht gewesen, denn innerhalb kurzer Zeit sollte das neue Jahrtausend dem heimischen Fußball eine Entwicklung bescheren, mit der seinerzeit wohl selbst notorische Pessimisten nicht gerechnet haben dürften.

Obwohl das alte Jahrhundert bereits mit zwei Negativereignissen zu Ende gegangen war, – der TSV Großen-Linden hatte seine erfolgreiche Mannschaft aus der Landesliga zurückgezogen und die Sportfreunde Burkhardsfelden sich als sportliche Absteiger angeschlossen – war der Fußballkreis im Jahr 2000 auf Landesebene immerhin noch mit dem VfB 1900 in der Oberliga und dem FSV Steinbach in der Landesliga vertreten. Die Spielzeit 2000/01 wuchs sich jedoch zu einer mittleren Katastrophe aus, denn gleich beide Clubs mussten ihre Liga verlassen. Die Gründe dafür waren jedoch völlig unterschiedlicher Natur. Während es in Steinbach nach neun Jahren Landesliga einfach sportlich nicht mehr reichte, spielten die Gießener unter Trainer Stefan Hassler eine sehr gute Runde, standen lange in der Spitzengruppe und liebäugelten sogar mit der Regionalliga. Aber die wirtschaftlichen Probleme waren so groß geworden, dass eine geplante Abspaltung der Fußballabteilung – angedacht war übrigens ein FC Gießen (!) – in einem Fiasko endete. Schlussendlich verschwand die Seniorenmannschaft des Clubs, der gerade noch sein 100-jähriges Bestehen gefeiert hatte, für ein Jahr ganz von der Bildfläche und nahm erst im Sommer 2002 in der B-Klasse den Spielbetrieb wieder auf.

Für den Fußballkreis bedeuteten die Abstiege seiner beiden Aushängeschilder, dass er nun erstmals seit mehr als fünf Jahrzehnten nicht mehr auf Landesebene vertreten war und plötzlich der Meister der Bezirksoberliga, der SC Gießen-Sachsenhausen, vorübergehend zur Nummer eins im heimischen Fußball wurde.

Neue Akzente und Initiativen

Henry Mohr war da bereits neuer Kreisfußballwart, der Willi Schreiner im April 2000 abgelöst hatte. Schreiner hatte die heimischen Fußballer 21 Jahre lang geführt und wurde, wie bereits sein Vorgänger Pliska, zum Ehrenvorsitzenden ernannt. Unter Schreiner hatte sich die Zahl der Mannschaften und die Zahl der Mitglieder in den Vereinen auf hohem Niveau stabilisiert, sodass der Fußballkreis sogar zeitweise zum größten in Hessen avancierte. Es wurden aber auch neue Akzente gesetzt, war doch der Kreisfußballausschuss schon damals weit davon entfernt, ein reines Verwaltungsgremium zu sein, das sich nur um den ordnungsgemäßen Ablauf des Spielbetriebs kümmerte. Mit „Fußball aktuell“ gab es eine Publikation, die in Hessen ohne Beispiel war, man hatte einen eigenen Fair-Play-Wettbewerb ins Leben gerufen und auch bereits begonnen, die „Aktion Ehrenamt“ des DFB auf Kreisebene bekannt zu machen und mit Leben zu füllen.

Unter der Führung von Mohr wurden dieser Weg nun konsequent fortgesetzt und weitere Initiativen ins Leben gerufen, die den Fußball an der Basis immer wieder neu und in unterschiedlichsten Zusammenhängen thematisierten. So wurde etwa der Jahresempfang des Fußballkreises ersonnen, zu dem regelmäßig prominente Gesprächspartner eingeladen werden und der sich bis heute großer Beliebtheit erfreut. Als überaus erfolgreich erwies sich auch die Idee, Partner aus der Wirtschaft in die Austragung des Kreispokals einzubinden. Der Wettbewerb hat so eine erhebliche Aufwertung erfahren und an den Finaltagen können oft vierstellige Besucherzahlen registriert werden. Und hin und wieder wurde dem Publikum auch etwas ganz Besonderes geboten. So kam zum Beispiel Borussia Dortmund 2006 zu einem Spiel gegen eine Bezirksauswahl ins Gießener Waldstadion; die weit über 6000 Zuschauer zeigten, dass guter Fußball in der Region sein Publikum findet. Attraktiven Sport boten auch die Länderspiele der U 17-Nationalmannschaft (u. a. mit dem späteren Weltmeister Toni Kroos), die 2007 in Gießen auf die USA traf, und der U 20-Auswahl der Frauen, die drei Jahre später auf ihrem Weg zum Welttitel ebenfalls im Fußballkreis Station machte und Südkorea vor ansehnlicher Kulisse mit 3:0 schlug.

Steinbach in der Hessenliga

Zu diesem Zeitpunkt hatte der heimische Fußball seine Talsohle längst durchschritten, denn der FSV Steinbach, der schon 2003 in die Landesliga zurückgekehrt war, hatte 2005 als dritter heimischer Club nach dem VfB 1900 Gießen und dem TSV Klein-Linden den Aufstieg ins hessische Oberhaus geschafft. Für neun Jahre, bis zu seinem freiwilligen Rückzug nach der Saison 2013/14, war der FSV, der ab 2007 unter dem Namen Fernwald antrat, die klare Nummer eins im Kreis und hatte mit dem dritten Rang in der Spielzeit 2011/12 seine beste Platzierung. Aber auch in der Landesliga, die seit 2007 den Namen Verbandsliga trägt, waren die heimischen Fußballer wieder stärker vertreten. Neben Sachsenhausen und Steinbach spielten in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends noch der TSV Klein-Linden, der FC TuBa Pohlheim, Eintracht Lollar, die TSG Wieseck und die SG Birklar in Hessens zweithöchster Spielklasse. Ein Comeback auf Landesebene erlebte der VfB 1900 Gießen, der 2009 wieder in der Verbandsliga angekommen war. Ein Jahr später wäre ihm sogar fast die Rückkehr in die Oberliga gelungen, aber er scheiterte in der Relegation. Auch in den folgenden Jahren waren die Gießener immer im Vorderfeld der Verbandsliga platziert, konnten aufgrund erneuter wirtschaftlicher Probleme den Abstieg 2017 jedoch nicht mehr verhindern und wurden anschließend in die Gruppenliga durchgereicht. Dafür hatte der Club 2015 aber noch einmal im Hessenpokal für Schlagzeilen gesorgt, als er zum vierten Mal ins Finale einzog, aber nach der knappen Niederlage im Auestadion gegen Hessen Kassel – unter Niko Semlitsch – erstmals nicht mit dem Titel belohnt wurde.

Watzenborn auf dem Weg

Wechselvoll verlief im neuen Jahrtausend auch der Weg der Teutonia aus Watzenborn-Steinberg, die nach fast 20-jähriger Abstinenz erst 1997 auf die Bezirksebene zurückgekehrt war und 2006 erstmals in die Verbandsliga aufstieg. Nach zwei Jahren musste der Club jedoch wieder zurück in die Gruppenliga. 2011 gelang der Wiederaufstieg, vier Jahre später der Sprung ins hessische Oberhaus und als Meister der überraschende Durchmarsch in die Regionalliga Südwest. Erstmals spielte nun ein heimischer Verein überregional in der 4. Liga. Doch der Klassenerhalt gelang nicht. Wohl auch, weil die Heimspiele in Wetzlar ausgetragen werden mussten und das Stadion nur selten so gut gefüllt war, dass es die Grün-Weißen hätte beflügeln können. So mussten die heimischen Fans auf den FC Gießen warten, der 2018 aus dem Zusammenschluss der Teutonia mit der Fußballabteilung des VfB 1900 entstand und sich auf Anhieb die Hessenmeisterschaft und den Aufstieg in die Regionalliga Südwest sicherte. Zwar ist der neue Club, der nun im Gießener Waldstadion spielt, auf positive Resonanz und zumeist regen Zuspruch des Publikums gestoßen, ob er aber tatsächlich und auf Sicht den sportlichen und wirtschaftlichen Anforderungen des Fußballs in einem semiprofessionellen Umfeld gewachsen ist, muss sich erst noch weisen.

Große Herausforderungen

Auch auf anderen Gebieten brachte das neue Jahrtausend dem Fußballkreis manch Neues. So gab es erstmals sogenannte Relegationsspiele, die dem Ringen um Auf- und Abstiege am Saisonende zusätzliche Brisanz verliehen. Abgeschafft wurden hingegen die Fußballbezirke, und der Übergang von der Kreis- zur Landesebene wurde durch die Kreisoberliga und die darauf aufbauende Gruppenliga, die der alten Bezirksklasse gleicht, neu justiert. Zudem haben sich im Fußballkreis auch all die Entwicklungen niedergeschlagen, die den Amateurfußball als Ganzes vor große Herausforderungen stellen: Die Zahl der Spieler und Mannschaften, die am Spielbetrieb teilnehmen, geht zurück und die Anzahl der Spielgemeinschaften, in denen sich mitunter drei oder mehr Vereine zusammenfinden müssen, um eine konkurrenzfähige Elf zu stellen, steigt. Vielerorts lässt das Zuschauerinteresse nach, es fehlt an Ehrenamtlichen, Vereinsstrukturen bröckeln und sportlicher Erfolg ist nicht selten eine Frage finanzieller Möglichkeiten, da nicht wenige Spieler wie selbstverständlich davon ausgehen, für die Ausübung ihres Hobbys in irgendeiner Form „entlohnt“ zu werden.

Verändert hat sich auch der Jugendfußball, denn über 250 Mannschaften im Fußballkreis, wie sie noch Mitte der 1990er Jahre gezählt wurden, sind heute reines Wunschdenken. Schon seit Längerem kann man beobachten, dass die Mannschaftszahlen, insbesondere in den höheren Altersklassen, zurückgehen, während es gleichzeitig den Trend gibt, die vermeintlich besten Spieler eines Jahrgangs in wenigen Vereinen zu konzentrieren. Hier muss man in erster Linie die TSG Wieseck und den VfB 1900/FC Gießen nennen, die sich auf hohem Niveau der Ausbildung des Nachwuchses widmen und versuchen, heimischen Talenten einen Weg in den höherklassigen Fußball zu ebnen. Ein Höhepunkt war das Gastspiel des FC Bayern München bei den C-Junioren aus Wieseck in der Regionalliga Süd, das in der Saison 2010/11 rund 1500 Zuschauer anlockte.

Mit solchen Besucherzahlen konnte und kann der heimische Frauen- bzw. Mädchenfußball, der in diesem Jahr sein 50-jähriges Jubiläum feiert, zwar nicht aufwarten, aber auch er hat sich längst etabliert, wenngleich die Zahl der Mannschaften auch hier zurückgegangen ist und man den Spielen mehr Resonanz und Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit wünscht. Waren es anfangs vor allem der TSV 1848 Hungen, der TSV Villingen oder der VfB 1900 Gießen, die die heimische Szenerie bestimmten, so drängten später der FC Großen-Buseck, Eintracht Lollar und der TSV Klein-Linden in den Vordergrund. In Klein-Linden ist seit 2015 auch eine Mannschaft beheimatet, die sich, einzigartig im Fußballkreis, speziell die Integration geistig beeinträchtigter Menschen durch den Fußball zur Aufgabe gemacht hat.

Noch immer gut aufgestellt

Gemessen an der Situation in manch anderer Region in Hessen sieht sich der Fußballkreis Gießen, der traditionell eng mit seinem Nachbarn, dem Fußballkreis Alsfeld, kooperiert und bei Bedarf die dortigen Ligen mit seinen Mannschaften „auffüllt“, im Jahr seines 75-jährigen Bestehens trotz aller Herausforderungen sportlich noch immer gut aufgestellt: Der FC Gießen spielt in der Regionalliga und der FSV Fernwald ist wieder in die Oberliga zurückgekehrt. Mit dem FC Gießen II, dem FC TuBa Pohlheim und der SG Kinzenbach spielen drei heimische Vertreter in der Verbandsliga, mit den TSF Heuchelheim, dem MTV 1846 Gießen, der FSG Wettenberg und der SG Kesselbach/Odenhausen/Allertshausen weitere vier Teams in der Gruppenliga und in der höchsten hessischen Spielklasse der Frauen ist der Fußballkreis mit Eintracht Lollar vertreten. Komplettiert wird das Bild durch zahlreiche Jugendmannschaften auf Verbandsebene – Wiesecks C-Jugend spielt weiter Regionalliga – und einen immer noch relativ breiten Unterbau, in dem von der C-Klasse bis zur Kreisoberliga über 70 Teams aktiv sind.

Da die „Corona-Pause“ auch die Abstiege aufgehoben hat, wird der Fußballkreis Gießen in der kommenden Spielzeit wohl in ähnlicher Konstellation in den oberen Spielklassen an den Start gehen können. Trotzdem hätte man ihm zu seinem Jubiläum natürlich ein rühmlicheres, sprich sportlicheres Ende der Spielzeit gewünscht, zumal noch nicht absehbar ist, wie sich die monatelange Spiel- und Trainingsunterbrechung mittel- bis langfristige auf den Amateurfußball und seine Clubs auswirken wird.



Aufrufe: 030.6.2020, 08:00 Uhr
Christian von Berg (Gießener Anzeiger)Autor