2024-05-02T16:12:49.858Z

Im Nachfassen
Überragendes Spiel – und doch so enttäuscht: Dominick Drexler machte ein Tor, bereitete zwei vor und war nach dem 3:4 untröstlich. Foto: Koch
Überragendes Spiel – und doch so enttäuscht: Dominick Drexler machte ein Tor, bereitete zwei vor und war nach dem 3:4 untröstlich. Foto: Koch

Holstein Kiel belohnt sich nicht mit Zählbarem

Eine »epische Schlacht« ohne Happy End

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Noch lange nach dem Spiel wurde gefeiert. Auf beiden Seiten. Einige Kieler Spieler, die bereits den Weg in die Kabine angetreten hatten, kamen sogar noch einmal zurück aufs Feld, um – mit sichtlich gemischten Gefühlen – die Ovationen der eigenen Anhänger entgegen zu nehmen, die das Erlebnis der Alten Försterei und der (offensiv) grandiosen Vorstellung ihrer eigenen Mannschaft bis zum Schluss auskosteten.

Auch wenn es noch nicht jeder wahrhaben wollte: An die „epische Schlacht“, wie die „Welt“ dieses Zweitliga-Spiel in Berlin bezeichnete, an der der Aufsteiger einen ebenso großen Anteil hatte wie die Berliner, wird man sich auch noch erinnern, wenn die Protagonisten ihre Fußballstiefel längst an den Nagel gehängt haben. „Wir haben uns super verkauft“, stellte Holsteins Sportchef Ralf Becker fest. Und Trainer Markus Anfang gratulierte nicht nur seinem Gegenüber Jens Keller zum Sieg, sondern seiner Mannschaft dazu, dass sie sich „für einen Aufsteiger sehr gut präsentiert“ habe und auch „allen Zuschauern dazu, dass sie bei diesem Spiel dabei waren“.

Eine halbe Stunde nach dem Schlusspfiff in der Mixed Zone waren die Faktoren Adrenalin, Erlebnis und Blick aufs nackte Ergebnis ursächlich dafür, dass die Reaktionen der Aktiven unterschiedlich ausfielen. Torhüter Kenneth Kronholm war noch sichtlich aufgewühlt von den ereignisreichen 90 Minuten, als er feststellte: „Ich weiß noch gar nicht, ob ich enttäuscht sein soll.“

Das 4:3 auf der Anzeigetafel wurde überlagert vom Erlebnis und der Darbietung der eigenen Mannschaft. „Wir haben einfach ein geiles Spiel gemacht. Aber die haben halt auch richtig geil gekickt“, ordnete der Holstein-Schlussmann die gezeigten Leistungen der beiden Mannschaften durchaus richtig ein. „Es hat Spaß gemacht, den Jungs da vorne zuzuschauen“, beschrieb er, woran – für einen Torhüter untypisch – auch die vier Gegentreffer zunächst nichts änderten. „Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann wir das letzte Mal vier Tore kassiert haben“, sagte er zwar. „Aber auch so war das Spiel einfach geil.“

Für andere rückte der Erlebniswert schneller in den Hintergrund. „Ich bin stolz darauf, dass wir hier richtig mutig gespielt haben und uns spielerisch klar gesteigert haben zur letzten Woche“, sagte Kapitän Rafael Czichos. „Aber es gibt nicht viel, worüber ich mich sonst freuen soll. Wir haben drei Tore gemacht und nehmen nichts mit. Das ist schon ein bisschen zu viel des Guten. Wir müssen defensiv einen Zahn zulegen.“

Und auch beim emotional aufgewühlten Keeper kamen schon erste Ansätze der Aufarbeitung durch. „Wenn alles richtig eingespielt ist, wird uns das sicher nicht mehr passieren, dass wir vier Tore bekommen“, sagte Kronholm. „Wir müssen sehen, dass wir an den Dingen arbeiten, das gilt für jeden. Vielleicht kann ich auch beim vierten Tor irgendwie rankommen, auch wenn das ein ziemlicher Strahl war.“

Dominick Drexler, der trotz einer absolut überragenden ersten Hälfte – ein Tor erzielt, zwei Treffer und zwei Großchancen vorbereitet – den inoffiziellen Titel Mann des Tages an Steven Skrzybski abgeben musste, war eher angesäuert als erfreut. „Ich will keine Komplimente hören“, sagte er. „Wir haben drei Tore gemacht, aber null Punkte mitgenommen. Natürlich ist Union eine unfassbar starke Mannschaft. Aber an einem guten Tag, wie wir ihn heute hatten, muss man hier etwas mitnehmen.“

Auch Doppeltorschütze Kingsley Schindler (dem die DFL das zweite Tor wegen Pedersens misslungener Rettungsaktion „klaute“ und zum Eigentor machte) sah den Kieler Auftritt kritisch. „Über die Tore kann ich mich nicht richtig freuen. Im Vordergrund steht, dass wir 3:4 verloren haben“, sagte der Flügelspieler.Trotz unveränderter Mannschaft zahlen die Kieler derzeit noch etwas Zweitliga-Lehrgeld, weil die Balance zwischen Offensive und Defensive noch nicht stimmt. „Das ist kein individuelles Problem“, sagte Becker, „sondern ein kollektives.“

Die fünf nominell defensiv ausgerichteten Spieler erhalten noch zu wenig Unterstützung aus den vorderen Reihen. Anfang wollte das auch nicht als Systemproblem sehen. „Wir spielen ja nicht starr in einer Formation, sondern wechseln auch mal“, erklärte er. Phasenweise war in Berlin Alexander Mühling als zweiter Sechser zurückgezogen worden.Offensiv hatte der Coach genau den richtigen Blick.

„Der Trainer hat uns super eingestellt“, lobte Drexler. „Wir wussten, dass Union die Außenverteidiger hoch schiebt und wollten genau in die Lücken spielen. Das hat super geklappt.“ Den Kielern kam die offensive – im Nachhinein übermütige – Aufstellung der Berliner zugute, die es mit zwei Stürmern und Raute im Mittelfeld probierten. „Wir haben ein anderes System gespielt, weil wir dachten, dass das gut ist“, sagte Stürmer Sebastian Polter. „Aber das haben wir bald wieder umgestellt.“

Trainer Keller wollte die Änderung nicht als Unterschätzen des Aufsteigers sehen. „Wir haben zu viele einfache Ballverluste gehabt“, nannte er als Erklärung des defensiven Chaos. „Aber dann hat auch die Absicherung neben Felix Kroos gefehlt. Deshalb habe ich Damir Kreilach dann wieder daneben gestellt.“ Mit der Umstellung war dann nach der Pause das Spektakel beendet. „Da haben wir weniger Fußball gespielt, aber besser gestanden“, stellte Keller nüchtern fest.
Aufrufe: 07.8.2017, 08:00 Uhr
SHZ / C. Jessen/heyAutor