2024-05-02T16:12:49.858Z

Ligabericht
FC Gießen, Hessenliga-Meister und Aufsteiger in die Regionalliga Südwest.	Foto: Ben
FC Gießen, Hessenliga-Meister und Aufsteiger in die Regionalliga Südwest. Foto: Ben

Überflieger der Hessenliga

HESSENLIGA: +++ Premiere des FC Gießen mit Aufstieg gekrönt +++

GIESSEN. Reicht es heute? Ungewissheit bis zwei Minuten vor Schluss! Dann gelingt Johannes Hofmann der Schuss ins Glück zum 2:1-Endstand gegen den FSC Lohfelden. Eingetütet waren Meisterschaft und Aufstieg in die Regionalliga Südwest bereits am viertletzten Spieltag. Der spannende Schlussakt passte so gar nicht zur Premieren-Spielzeit des FC Gießen, der die Konkurrenz in der Hessenliga schier nach Belieben beherrscht und über den gesamten Verlauf der Runde keinen echten Herausforderer im Titelkampf fand.

„Es war eine herausragende Saison“, sagt Trainer Daniyel Cimen kurz und knapp. Alle Statistiken belegen das: Selbst ohne den Fünf-Punkte-Abzug für Hessen Kassel würde der Vorsprung auf die Nordhessen überragende elf Zähler betragen, auf Alzenau sind es deren 13. Ferner stellt der FCG mit sagenhaften 108 Toren die beste Offensive (28 mehr als Alzenau) und mit lediglich 20 Gegentreffern die stärkste Defensive (10 weniger als Kassel). Und er führt sowohl die Heim- als auch die Auswärtstabelle an.

Als Basis erwies sich ein Raketenstart mit neun Siegen und einem Remis. Cimen betont: „Vieles hat gepasst im Verein, wir hatten eine extreme Ruhe, trotz der Fusion. Die Euphorie hat überwogen. Wenn wir es uns vor der Saison hätten ausmalen können, was die Resonanz der Zuschauer, den Spielplan und den Hessen-Pokal anbelangt, das hätte man sich nicht besser erträumen können, gerade im Hinblick auf den ersten Saisonteil. Da sind wir auf der Welle der Euphorie mitgeritten. Wir können in allen Bereichen auf ein sehr, sehr erfolgreiches und positives Jahr schauen.“ Gewiss: Der Kader des FC Gießen ist exquisit besetzt, die individuelle Klasse von Michael Fink, Timo Cecen, Kevin Nennhuber, um nur einige Spieler zu nennen, sucht in dieser Ballung ihresgleichen. Dazu die Trainingsumfänge mit bis zu sieben Einheiten in der Woche, die sich auf Profi-Niveau bewegen und mit ambitioniertem Feierabend-Fußball auf Hessenliga-Ebene nichts gemein haben. Nein, mit diesen Voraussetzungen war der FCG alles andere als ein „normaler“ Fünftligist.

Gleichwohl ist ein solcher Triumphzug, wie ihn die Cimen-Truppe hingelegt hat, auch mit dieser exzellenten Grundlage nicht automatisch vorprogrammiert. Doch die Einzelkönner funktionierten als Einheit, ein Rädchen griff ins nächste, die Elf bot variablen (Angriffs)-Fußball vom Feinsten. Das ist das Verdienst von Coach Cimen und seinen Assistenten Christos Arnautis und Zaki Tammaoui, die ihren Schützlingen über den Teamgedanken eine sehr attraktive Spielidee einimpften. Ex-Profi Cimen sieht diesen Aspekt des Erfolgs, die Art und Weise, wie er zustande kam, von der Konkurrenz gewürdigt: „Zu lesen war immer vom FC Gießen, nicht beispielsweise von Cem Kara oder Timo Cecen. Es wurden nie einzelne Spieler von den gegnerischen Trainern genannt, die eine außergewöhnlich gute Phase hatten.“

Dementsprechend, nicht zuletzt auch durch die rauschenden Hessenpokal-Abende im Waldstadion vor großen Zuschauerkulissen gegen die Regionalligisten Eintracht Stadtallendorf (3:0 n.V.) und FSV Frankfurt (2:1) bedingt, lag die Messlatte für die Restrunde auf quasi maximaler Höhe: im Grunde nicht mehr zu toppen oder erneut zu überspringen. Es handelt sich um Meckern auf allerhöchstem Niveau, gewissermaßen ist es der „Fluch der guten Tat“ aus dem ersten Rundenabschnitt mit 17 überwiegend deutlichen Siegen aus 20 Matches, wenn hinsichtlich der Bilanz 2019 das sprichwörtliche Haar in der Suppe gesucht wird. Zweimal zog der FC in Punktspielen den Kürzeren, dazu gesellte sich ein torloses Remis in Kassel.

Wieder eine Top-Ausbeute, aber in den letzten Wochen und Monaten machte sich im Umfeld, bei den Besuchern im Waldstadion, die Tendenz bemerkbar, die Dominanz als Selbstverständlichkeit zu betrachten. Enttäuschung machte sich im März breit, als die Gießener im Pokal-Halbfinale trotz 40 Minuten mit einem Mann mehr am Ligakontrahenten KSV Baunatal scheiterten und die riesige Chance, sich mit dem Finaleinzug für den DFB-Pokal zu qualifizieren, verpassten. In den Ärger über das Ausscheiden mischten sich bei Cimen Gedanken über die gestiegene Erwartungshaltung von außen: „Baunatal war keine Laufkundschaft. Natürlich war es von der Dramaturgie her mit der Überzahl bitter, das wir es nicht geschafft haben, den KSV ausreichend unter Druck zu setzen. Das hätten wir besser machen müssen. Das Aus hat wehgetan, ist jedoch kein Makel.“

Inzwischen ist das Thema abgehakt, der Blick geht Richtung Regionalliga Südwest. Es sei schwer, den Aufstieg über einen längeren Zeitraum zu genießen, sagt Daniyel Cimen, der gemeinsam mit Michael Fink längst die Planungen für die neue Aufgabe vorantreibt. Eines ist dabei klar: Die Bäume für den FCG wachsen nicht in den Himmel. Waren im Herbst aus dem Verein heraus bisweilen formulierte Ansprüche zu vernehmen, die über Liga vier hinausgingen, so wird derzeit deutlich vermittelt, dass das Ziel erst einmal nur Klassenerhalt lauten kann. Der um 100 000 Euro auf 1,1 Millionen gesenkte Etat lässt dieses Ziel von der finanziellen Seite sicher realistisch erscheinen, einfach wird es indes nicht werden.

Die Abschlusstabellen der letzten Jahre verdeutlichen: Dicht an dicht knüpfte das Mittelfeld des Klassements an die Abstiegszone an. „Es kann eine schwere Saison werden, aber wir werden alles dafür tun, um im Jahr darauf wieder Regionalliga zu spielen“, erklärt Cimen und ergänzt: „Ich sehe sehr viel Potenzial in diesem Projekt und ich bin davon überzeugt. Wir wollen das weiter Schritt für Schritt aufbauen. Dass ich nicht jedes Jahr gegen den Abstieg spielen möchte, daraus mache ich kein Geheimnis. Das ist nicht meine Ambition, aber es ist auch nicht die Ambition des Vereins. So gehen wir in die Saison und freuen uns drauf.“

Die Klasse wird wohl noch stärker besetzt sein als in dieser Saison. Zwar ist Waldhof Mannheim aufgestiegen, dafür kommt der VfR Aalen aus Liga drei, Stand jetzt auch Sonnenhof Großaspach. Traditionsvereine wie Kickers Offenbach, der 1. FC Saarbrücken, der FC Homburg, der SSV Ulm sind ebenso mit dabei wie finanzkräftige Emporkömmlinge wie der TSV Steinbach Haiger oder die SV Elversberg. Mögliche Aufsteiger könnten die ehemaligen Proficlubs Hessen Kassel und/oder die Stuttgarter Kickers sein. Die erfahrenen Schwaben würden, um einen Vergleich zu Gießen zu haben, mit einem Etat von 1,4 Millionen Euro planen. Das Ziel wäre dann: Etablierung.

Die vierte Liga bedeutet, mit wenigen Ausnahmen, Profitum. Hier, in Sachen Trainingsaufwand, befindet sich Gießen auf Augenhöhe. Anders verhält es sich beim Personal und den Trainingsbedingungen, vor allem was die Trainingsplätze anbelangt. Cimen: „Vom reinen Training her müssen wir uns vor niemandem verstecken, aber was die Aufstellung, was die Hauptamtlichen angeht, schon. Von der Manpower und Infrastruktur her sind es Riesenunterschiede. Über Offenbach brauchen wir nicht zu reden, auch nicht über Saarbrücken, Homburg oder Ulm. Das sind die nächsten Stufen, um uns da noch breiter in der Manpower aufzustellen. Da führt kein Weg vorbei.“

Im Zentrum der Überlegungen steht selbstredend die Kaderzusammensetzung. Die namhaftesten Abgänge sind Angreifer Markus Müller (Laufbahnende), der 24fache Goalgetter Damjan Marceta (zum FC Homburg) und wohl auch Mittelfeldmann Timo Cecen („Es hat Verhandlungen gegeben, aber man lag weit auseinander“). Den von Abteilungsleiter Andreas Heller vermeldeten Weggang Alban Lekajs dementiert Cimen übrigens.

Als Neuzugänge haben die Gießener Nachwuchsspieler Luca Teller (U19 SV Wehen-Wiesbaden) und Hessenliga-Stürmer Jann Bangert (RW Hadamar) sowie Marco Koch vom FSV Frankfurt verpflichtet. Eben jenen Koch bezeichnet Coach Cimen als „bestes Beispiel“ dafür, in welcher Kategorie sich der Club in puncto Transfers bewegt. „Er hat auf all seinen Stationen mal gespielt, mal nicht. Nirgends hat er sich richtig durchgesetzt, außer jetzt beim FSV. In ihm sehen wir Potenzial, das noch weiter zu forcieren. Das sind die Spieler, nach denen wir schauen.“

Regionalliga-Erfahrung sollte es aber in jedem Fall für die Positionen sein, auf denen Bedarf herrscht: ein Mittelstürmer sowie in der Abwehr. „Das müssen absolute Verstärkungen für uns sein, wir brauchen da definitiv Spieler, die uns sofort weiterhelfen.“ Davon machte auch unlängst Michael Fink, der Denker und Lenker im Mittelfeld, seinen Verbleib abhängig.

Fink wäre Cimens verlängerter Arm auf dem Rasen, um den Spielstil anzupassen: „Das werden wir müssen, weil in der Regionalliga Mannschaften dabei sind, die enorme Qualität haben. Und die werden dann wahrscheinlich auch dominant auftreten. Wir wollen uns aber nicht in jedem Spiel hinten reindrücken lassen und nur auf Konter lauern.“ Interessant: In der Regionalliga fällt gegenüber der Hessenliga fast ein Tor weniger im Schnitt (2,8 zu 3,7). Ein Indiz dafür, sich verstärkt mit Alternativen zur bislang offensiven Spielweise zu beschäftigen und die Ausrichtung zu varriieren.

Daniyel Cimen erläutert: „Viele Mannschaften bauen auf eine stabile Defensive auf. Die sagen sich: Wir haben die Qualität, vorne immer ein Tor zu machen, aber wir müssen versuchen, die Null zu halten und nehmen halt ein 0:0 mit. In einer engen Liga kann jeder Zähler wichtig sein. Wir werden unseren Offensivstil nicht auf Teufel komm raus beibehalten. Und wenn es auch mal ein Punkt ist, werden wir probieren, den über die Zeit zu retten.“

Die Saison 2019/20 wird ohne Zweifel eine immense Herausforderung für den FC Gießen. Cimen baut für die erfolgreiche Bewältigung auch auf die Fans und Zuschauer: „Es wäre schön, wenn wir die positive Entwicklung weiter voranbringen würden. Ich hoffe und appelliere auch, dass die Leute uns unterstützen, denn das wird enorm wichtig sein. Ich glaube, dass das in der Regionalliga in Heimspielen ein paar Prozentpunkte ausmachen kann. Es wäre schön, wenn wir den Besucherschnitt noch nach oben schrauben können.“ Ohne Frage: Der FCG hat sich in seinen ersten zehn Monaten prächtig entwickelt. Jetzt muss er in der Regionalliga Südwest laufen lernen.



Aufrufe: 015.5.2019, 06:00 Uhr
Thomas Suer (Gießener Anzeiger)Autor