2024-05-10T08:19:16.237Z

Vereinsnachrichten
Eine Familie, ein Team: die Janottas aus Leegebruch. Ein alter Zeitungsauschnitt, den Ingrid Gill aufgehoben hat. Die geborene Janotta selbst ist nicht mit auf dem Bild. Dafür aber alle ihre Fußball-spielenden Brüder und Mama Lisbeth.   ©privat
Eine Familie, ein Team: die Janottas aus Leegebruch. Ein alter Zeitungsauschnitt, den Ingrid Gill aufgehoben hat. Die geborene Janotta selbst ist nicht mit auf dem Bild. Dafür aber alle ihre Fußball-spielenden Brüder und Mama Lisbeth. ©privat

Die Janottas - ein Fußballclan

Eine Familie, eine Leidenschaft: Jahrzehntelang traten acht von zehn Janottas gegen den Ball - die anderen beiden waren Mädchen

Von zehn Geschwistern spielten acht ihr Leben lang Fußball: Die Janottas aus Leegebruch sind eine echte Fußballfamilie. Wie es sich anfühlte, Teil dieses Clans zu sein, ohne gegen den Ball zu treten, weiß die letzte verbliebene Schwester der Janottas.

Ingrid Gill hat alles schon rausgelegt. Die ganzen Bilder. Die Zeitungsausschnitte. Die Familiengeschichte. Die Geschichte der Janottas. Die Frührentnerin wirkt ein bisschen nervös. Sie faltet ihre Hände, dreht den Daumen der einen auf dem Zeigefinger der anderen Hand. Ausgerechnet sie soll nun im Mittelpunkt stehen. Sie. Wo es doch um Fußball geht. Und Ingrid Gill gemeinsam mit ihrer schon verstorbenen Schwester Liselotte jawohl die Einzige unter all ihren zehn Geschwistern war und ist, die mit Fußball nun überhaupt gar nichts am Hut hat. "Ich guck' keinen Fußball", sagt sie.

Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Aber von vorn: Ingrid wurde 1952 geboren. Als drittes Kind der Familie Janotta. Ein Brüderchen, ein Schwesterchen. Eine ganz normale Familie in der ostdeutschen Nachkriegszeit. Bis 1955. Ab da begann im Hause Janotta eine neue Zeitrechnung. Sieben weitere Geschwister kamen zur Welt. Ausschließlich Jungs. Einer nach dem anderen. Und wenige Jahre später sah jeder Sonnabend und jeder Sonntag bei den Janottas in Leegebruch in etwa so aus: Aufstehen, Frühstücken, raus zum Fußball, Mittagessen, und wieder Fußball, bis es dunkel wird. "Schlimme Zeiten", sagt Ingrid Gill. "Aber auch schöne. Manchmal so, manchmal so."


Alte Zeiten: Ingrid und Wolfgang Gill schauen sich Zeitungsausschnitte und Familienfotos an. Sie ist eine geborene Janotta und gehört somit zu einem echten Oberhavel-Fußball-Clan. ©MOZ

Die kleine Plattenbau-Wohnung in der Nähe vom Oranienburger Schloss ist aufgeräumt. Ingrid Gill hat ein bisschen Weihnachtsdeko aufgehängt. Über den Tisch ist ein weißes Tuch gefaltet, in der Vitrine stehen Familienfotos. Hätte sie nicht extra die vielen Bilder auf den Tisch gelegt, es gäbe nicht den geringsten Hinweis auf die Fußballfamilie, aus der Ingrid Gill stammt. Aber wer in Oranienburg und Umgebung ihren Mädchennamen Janotta hört, denkt automatisch an: Tore, Siege, Fußballgeschichte.

Einer der Gründe steht jede Woche rund zehn Kilometer von der kleinen Wohnung entfernt auf einem Trainingsplatz in Velten. Meistens in grüner Sportjacke, die gleiche dunkle Augenpartie wie seine Schwester Ingrid, ein entschlossener Blick: Eberhard Janotta ist Trainer der ersten Mannschaft beim SC Oberhavel Velten. Ein Traditionsverein, der momentan nicht viel mehr hat als seine Tradition. Früher spielte man hier in der zweithöchsten DDR-Spielklasse. Dann kam die Wende. Und nach furiosen Jahren in der Ober- und Regionalliga der lange Abstieg. Seit einigen Jahren dümpelt der SC Oberhavel in der Landesliga herum. Früher kamen nicht selten 1000 bis 2000 Zuschauer zu den Heimspielen. Im letzten Derby gegen Forst Borgsdorf waren es 35. "Natürlich", sagt Eberhard Janotta, "es sind schwere Zeiten."


Früher Mittelfeldmotor, heute Trainer: Eberhard Janotta ist der bekannteste Spieler der Familie. Einst kickte er bei Stahl Brandenburg. Jetzt trainiert er den SC Oberhavel Velten. ©MOZ

Obwohl er erst seit gut einem Jahr hier ist und eigentlich sein Bruder Peter früher für die Grün-Weißen die Tore schoss, kennt ihn in Velten jeder. Als Chemie damals seinen Höhenflug hatte, lief es auch für Eberhard Janotta prächtig. Er spielte bei Stahl Brandenburg, erst DDR-Oberliga, dann zweite Bundesliga. "In der Oberliga, da waren die Stadien voll. Oft mehr als 20000 Leute", sagt er.

Eberhard Janotta ist so etwas wie eine lebende ostdeutsche Fußballlegende: Für Stahl Brandenburg schoss er das erste internationale Tor der Vereinsgeschichte: im Europapokal gegen den nordirischen Erstligisten Coleraine FC. Dann knickte er im Training um und konnte in der zweiten Runde gegen Göteborg nicht mitspielen. Stahl flog raus. Göteborg wurde Europapokalsieger. "Vielleicht wäre es anders gelaufen, wenn ich mitgespielt hätte."


Früher bei Stahl: Eberhard Janotta im Profi-Team der Brandenburger ©privat

Während die Janotta-Jungs und Mutter Lisbeth damals im heimischen Leegebruch an den Fernsehgeräten klebten, war Ingrid das alles ganz egal. "Ich habe doch keine Ahnung, wer wohin schießen muss", sagt sie. Und die internationalen Erfolge von Eberhard? Das Länderspiel? Die zweite Bundesliga? "Ich mach mir doch keinen Kopf, weil die Fußball spielen", sagt sie entschlossen. Man möchte ihr nicht widersprechen.

Das trauten sich auch ihre Brüder selten. Bis heute nennen sie sie manchmal Mama. "Wenn mir was nicht passt, sage ich ihnen das." Zum Beispiel das mit der Konfirmation. Das passte Ingrid damals im Frühsommer 1966 ganz und gar nicht. "Wir sind zur Kirche gegangen, Oma und Opa hatten Mittag gekocht und später habe ich Geschenke ausgepackt. Auf einmal war der Erste verschwunden. Bald war gar keiner mehr da." So lief das oft. Zu Weihnachten, auf Geburtstagen, an jedem Wochenende. Fußball, Fußball, Fußball. "Verrückte Zeiten", sagt die Frührentnerin.

Ihr Mann Wolfgang hat Kaffee gemacht und zwei Tassen auf den Wohnzimmertisch gestellt. Auf seiner prangt in Grün -Weiß: "Borussia Mönchengladbach". Auf ihrer steht: "Ingrid".

Ingrid Gill hat sich hier ein Fußballfreies Hoheitsgebiet geschaffen. Nie wieder dreckige Stutzen waschen, nie wieder den Motter und die Steine aus den Taschen der Sporthosen puhlen. "Einmal habe ich ein Trikot gewaschen, das voller Hundekacke war", sagt sie und muss ein wenig lachen. "Es war die Nummer Sieben, das weiß ich noch."

Die Wochenenden waren für Ingrid und ihre Schwester nicht einfach: Neben dem Waschen ganzer Trikotsätze mussten die Janotta-Mädchen für die Jungs oft das Essen warmhalten. "Dafür hatte Mutter kleine Pfännchen vorbereitet, die auf dem Herd standen." Mama Lisbeth verbrachte die meiste Zeit selbst auf dem Platz. "Entweder hat sie in der Gaststätte Würste warm gemacht oder an der Bande meine Brüder angefeuert." Und Mädchensachen? Puppen? Jungs? Ingrid Gill nimmt die Brille ab und atmet durch: "Eigentlich nicht so". Trotzdem sagt sie: "Ich hatte eine schöne Kindheit."


Voller Einsatz: Mutter Lisbeth Janotta ist Fußballfan durch und durch gewesen. Ihr Schwiegersohn Wolfgang Gill war schon damals mit dabei (rechts unten). ©privat

Das sagt auch Eberhard Janotta. Und ihm fällt noch ein besseres Wort ein: "behütet". Vielleicht ging seine Karriere für heutige Maßstäbe auch deshalb erst so spät los. Mit 18 ging er zu Motor Babelsberg, dann zu Stahl Hennigsdorf, Chemie Schwedt, Stahl Brandenburg, Bergmann-Borsig, Eintracht Oranienburg und wieder zurück nach Leegebruch. In der Saison 2006 stellte er sich als Trainer noch einmal selbst auf den Platz. Im letzten Spiel. Mit 45 Jahren. Alles oder nichts. "Wenn alles gegen uns gelaufen wäre, hätten wir absteigen können", sagt er. Lief es aber nicht. Eberhard Janotta schoss zwei 30-Meter-Freistoßtore und sein Verein blieb in der Landesklasse. Wilde Zeiten in Leegebruch.

Ingrid Gill winkt noch immer ab, wenn sie solche Geschichten hört. Kamen ihre Brüder früher geknickt nach Hause, weil sie verloren hatten, sagte sie einfach: "Hör doch auf zu spielen, haste keine Sorgen mehr." Sagt sie auch heute noch.

Irgendwann hörte sie selbst auf, zog aus. Weit weg vom Ball kam sie aber nicht. Sie verliebte sich in den Mann, der ihr jetzt gegenüber sitzt und in den alten Fotos stöbert: Wolfgang Gill, Spieler, Trainer, Fußballer mit Leib und Seele.

Ihrem Sohn Steffen wollte er einmal vor dem Balkon in Oranienburg Stützräder an dessen Kinderfahrrad bauen. Jemand kam vorbei und passte einen Ball herüber. Wolfgang nahm an und das Schicksal seinen Lauf. Der Bolzplatz hinter dem Haus wurde zum zweiten Wohnzimmer der Gills. Das Waschen, die miese Stimmung nach bitteren Niederlagen, alles ging wieder von vorne los. Ingrid Gill musste stark sein. Harte Zeiten. Aber auch schöne. Denn das ganze Rumgebolze schweißte die Familie zusammen. Die Gills wie die Janottas. "Wir haben immer zusammengehalten", sagt Ingrid Gill stolz.

Ihr Sohn Steffen ist heute lange ausgezogen, wohnt weit weg. Sonntags ruft er an, zu Weihnachten will er nach Hause kommen. Dann wird der Sohn sehen, dass sich hier einiges verändert hat. Zum Beispiel der Bolzplatz hinter dem Haus. Die Baumaschinen, die sich dort durch den Nachmittag rütteln, haben ihn längst platt gemacht. Stadtvillen sollen entstehen. Neue Häuser, andere Zeiten. Aber die Geschichten bleiben doch irgendwie dieselben: Die ersten Janotta-Enkel haben das runde Leder schon für sich entdeckt. Ein Mädchen ist nicht dabei.

Aufrufe: 012.12.2014, 13:37 Uhr
Marc SchützAutor