Wie spannend kann ein Theaterstück über ein Fußballspiel sein, von dem es keine einzige Szene zu sehen gibt und bei dem jeder Zuschauer das Ergebnis kennt? Die Antwort liefert das Theater, und sie lautet: Sehr! Das Stück „Das Wunder von der Grotenburg“ dreht sich vordergründig um ein Fußballspiel – 90 Minuten zwischen Bayer 05 Uerdingen und Dynamo Dresden.
Doch schnell ist bei der Premiere in der Fabrik Heeder zu spüren: Es war viel mehr als das. Autor Rüdiger Höfken stellt in der szenischen Lesung gar die These auf, dass die 90 Minuten von Krefeld, nebst dem Nachspiel, dass Dynamo-Kicker Frank Lippmann die Partie zur Flucht nutzte, zu Verwerfungen im System DDR führten, die sogar einen guten Teil zu dessen Zusammenbruch beitrugen.
Auch weil die Staatsicherheit (Stasi) Dresdens Ersatztorwart Jörg Klimpel aufgrund von Westkontakten aus dem Verkehr zog. So musste nach der Verletzung von Stammtorwart Bernd Jakubowski der junge und unerfahrene Jens Ramme ins Tor. Sicher auch ein Faktor, warum den Krefeldern in der zweiten Halbzeit noch sechs Treffer gelangen. Die politischen Dimensionen sind der Fokus eines Theaterstücks, das sich nur scheinbar um Fußball dreht.
Die Geschichte: Uerdingen-Fan Alexander Burbach (Rüdiger Höfken) ist verheiratet mit DDR-Flüchtling Kathrin Burbach (Betti Ixkes). Zu Besuch kommt deren Bruder Gerd Müller (Michael Grosse), seines Zeichens Autor und Dynamo Dresden-Fan. Die Flucht der Schwester geschah am 16. März 1986 – drei Tage vor dem Spiel.
Vor diesem Hintergrund erzählt Höfken gekonnt eine Geschichte um die Stasi, ein deutsch-deutsches Familiendrama und immer wieder eines des Fußballspiels, das auch 35 Jahre später noch mitreißt.
Höfkens Figur verließ kurz vor der Halbzeit enttäuscht das Stadion und erfuhr erst am folgenden Tag vom „Wunder“, worauf sie sich schwor, das Spiel zur Sühne niemals anzusehen – bis zu diesem Tag. Obschon das Ergebnis, die Torschützen und Ereignisse längst bekannt sind: Alex Burbach geht mit, reklamiert, jubelt und schreit, als wäre es eine Live-Übertragung. Dazu wird der Original-Ton des Kommentators Rolf Kramer eingespielt.
Im Publikum bei der Uraufführung finden sich auch zwei Uerdinger Spieler von damals: Torwart Werner Vollack und DFB-Pokalheld und Siegtorschütze Wolfgang Schäfer. Immer wieder schmunzeln sie, manchmal tuscheln sie angeregt. Etwa wenn im Stück davon gesprochen wird, dass Uerdingen-Trainer Kalli Feldkamp die Mannschaftsbesprechung vor dem Hinspiel nicht im vorgesehenen Raum abhielt. „Ein sehr mutiger Hotelangestellter hatte ihm gesteckt, dass dort die Luft sehr schlecht sei. Sprich: Es gab weit mehr Zuhörer, als Feldkamp das wollte“, sagt Gerd Müller im Stück. So verlegte der Trainerfuchs die Taktikansagen auf eine Wiese an der Elbe. „Diese Situation werde ich nie vergessen. Schon beim Spaziergang vorher war es eine merkwürdige Atmosphäre. Normal haben wir uns bei Spaziergängen verstreut. In Dresden sind wir eng zusammengeblieben. Es gab uns einen Eindruck, was die Menschen im Osten durch das System täglich erdulden mussten“, erzählt Schäfer nach dem Stück. Während der Aufführung seien ihm die Bilder der Spiele, auch des Pokalfinales, durch den Kopf gegangen. „Es war wie ein Spielfilm. Alles kam zurück. Gerade weil nichts gezeigt wurde, weil alles in der Fantasie stattfand, waren die Bilder viel intensiver“.
Das Spiel, so ist in der Aufführung immer zu spüren, war weit mehr als Sport. Für die Uerdinger ging es um ein Europapokal-Viertelfinale. Für die Dresdner war es der Kampf gegen den Klassenfeind - und wirkt bis heute nach. „Die Menschen in Dresden vergleichen noch heute die Vorgänge rund um die Treuhand in den 90ern mit dieser Partie“, sagt Müller im Stück. Besonders ein Abseitspfiff gegen Dynamo beim Stand von 4:3 für Uerdingen erregt die Gemüter im Osten bis heute. Es war eine klare Fehlentscheidung – doch auch Raum für Verschwörungsmythen? Das Schiedsrichtergespann kam schließlich aus dem sozialistischen Ungarn.
Auch das kunstvoll eingewobene Familiendrama um Müller und seine Schwester reißt mit, sorgt für Nachdenklichkeit und Gänsehaut beim Publikum. Da nämlich die Schwester über Ungarn in den Westen floh, verbrachte Müller den Tag des Spiels nicht wie gewohnt vor dem Fernsehapparat, sondern in Verhörkellern der Stasi. Der Stachel über den Verrat und den Egoismus der Schwester wegen ihrer Flucht, unter der Angehörige zu leiden hatten, sitzt auch 35 Jahre später noch tief – besonders im Rückblick. „Hättest Du doch noch diese dreieinhalb Jahre gewartet – aber Geduld war noch nie Deine Stärke“, fasst der verlassene Bruder die Stimmung bitter zusammen.
„Das Wunder von der Grotenburg“ ist ein Stück, das sicher jeden Fußballfan begeistert, das aber so viel mehr ist. Ein Stück deutsch-deutscher Geschichte - und vielleicht, diese These ist zumindst schlüssig, der Anfang vom Ende des Unrechtsregimes in der DDR. Das bedeutet aber auch: Bayer 05 Uerdingen hätte in dieser Betrachtung den Lauf der Welt verändert.
Das Stück „Das Wunder von der Grotenburg“ wird in der Fabrik Heeder aufgeführt.
Noch zwei Termine gibt es in dieser Spielzeit: Am Samstag, 19. Juni, 20 Uhr, und am Samstag, 3. Juli, 20 Uhr.
Tickets sind erhältlich an der Theaterkasse unter Telefon 02151 805125.