Ibrahim Nadir ist eines von vielen Talenten, für die der Traum vom Profifußball irgendwann zerplatzt ist. Nicht aber der, mit dem Fußball die Welt zu entdecken. Amerikanische Colleges locken gezielt deutsche Nachwusspieler mit Sportstipendium zum Studieren ins Land, um den Fußball zu fördern. Denn der wird immer populärer.
Es ist ein Traum, der knapp zwei Millionen Kinder und Jugendlichen in Deutschland täglich begleitet: Profifußballer. Es ist die große Verheißung der glitzernden Fußballwelt: Geld, Berühmtheit, gesellschaftliche Anerkennung – und die Aussicht, die größte Leidenschaft zum Beruf zu machen. Viele sind dafür bereit, diesem Traum alles unterzuordnen, sich in einem der 56 Nachwuchsleistungszentren (NLZ) zum Erfolg trimmen zu lassen. In der Realität aber schaffen es selbst aus diesem elitären Kreis der Talentschmieden nur die wenigsten ganz nach oben: Zwischen 2010 und 2018 spielten nur rund 3,5 Prozent der mehr als 5000 Jugendfußballer aus den deutschen NLZs überhaupt in einer der ersten europäischen Ligen, wie die ARD herausfand. Doch für viele von ihnen öffnen sich mittlerweile neue Türen: Amerikanische Universitäten, die Keimzellen des US-Sports, lecken sich die Finger nach vermeintlich gescheiterten deutschen Fußballtalenten und vergeben Sportstipendien.
Wie bei so vielen Kindern vor ihm, kam auch bei Ibrahim Nadir aus Willich irgendwann der Moment, an dem es nicht mehr weiterging in der Karriereleiter. Sein fußballerisches Talent war früh aufgefallen, bereits mit zwölf Jahren hatte ihn der KFC Uerdingen verpflichtet. „Seitdem habe ich meine komplette Jugend für den Fußball geopfert, aber ich war schon immer sehr ehrgeizig, ich wollte es schaffen“, sagt Nadir. Nach der Schule ging es mehrmals die Woche mit der Bahn nach Krefeld. Noch aufwendiger wurde es, als ihn mit knapp 17 Rot-Weiß Oberhausen in sein NLZ holte, vor 23.30 Uhr kam Nadir meist nicht nach Hause. Nach zwei Jahren in der U19-Bundesliga, der Schwelle zum Profitum, stand er dann vor dem Nichts: Er hatte schon eine Zusage für einen Platz im Regionalliga-Team von RWO, doch in letzter Minute verpflichtete der Verein noch einen neuen Spieler und wies ihm die Tür. Nadir ließ sich davon nicht unterkriegen: „Ich habe Pech gehabt. Aber es war nicht so, dass eine Welt für mich zusammengebrochen ist. Ich wusste, dass ich einen anderen Weg gehen werde und weiter Fußball spielen möchte.“
Und diesen Weg fand er. Heute, nur vier Jahre nach dem fußballerischen Tiefpunkt, hat er gerade in Kalifornien seinen Master in Business Administration mit der Note 1,0 abgeschlossen. Wie ist das möglich?
Alles begann damit, dass er nach dem Ausscheiden bei RWO beim beim Fünftligisten DSC Derendorf in Düsseldorf anheuerte. Von Mitspielern hörte er von der Möglichkeit, sein fußballerisches Können für ein Studium in den USA zu nutzen. Mittlerweile gibt es zahlreiche spezialisierte Agenturen, die sich ein Netzwerk aus Colleges auf der anderen Seite des Atlantiks aufgebaut haben und Auswahltrainings veranstalten, zu denen College-Trainer der Fußballteams extra nach Deutschland einfliegen. Nadir bekam so 2018 ein Angebot für ein Vollstipendium am Newburry College im Ostküstenstaat South Carolina, wo er seinen Bachelor begann.
Neues Land, neue Sprache, andere Kultur: „Wenn man plötzlich auf der anderen Seite der Welt ohne Familie wohnt, hinterfragt man die Entscheidung am Anfang schon, ist ängstlich“, sagt Nadir. Er bezog ein Zweierzimmer mit einem norwegischen Teamkameraden direkt neben dem Fußballplatz und freundete sich mit ihm an. Schnell gewöhnte er sich an die neue Umgebung, wurde selbstbewusster im Umgang mit Englisch, auch, weil er merkte, dass es den meisten internationalen Studenten ähnlich ging. In der ersten Elf seiner Mannschaft spielten fast nur Nicht-Amerikaner. Sie kamen aus England, Italien, Serbien, Montenegro, Brasilien, Kolumbien oder Togo. Nadir musste gar feststellen, dass die Teams, die in den College-Ligen um die Meisterschaftsrunden ein Wörtchen mitreden, fast nur auf ausländische Studenten setzen. „In den College-Sport wird so viel Geld reingepumpt, da geht es auch im Fußball um Ergebnisse, mein Trainer stand unter großem Druck.“
Der College-Sport ist in den USA eine große Sache. Hier werden die Football-, Basketball-, Baseball- und Eishockey-Stars von Morgen ausgebildet, ihre Spiele werden im Fernsehen übertragen, es wird mit ihnen im großen Stil geworben, ihr sportlicher Erfolg bestimmt Renommee und Finanzierung der Colleges. Und das gilt mittlerweile auch für Fußball, der aus dem Schatten der US-Sportarten erwachsen ist und bei den Amerikanern immer beliebter wird. Laut einer Umfrage des amerikanischen Meinungsinstitutes Gallup von 2018 hat Fußball bereits Eishockey in seiner Popularität überholt, sieben Prozent der Amerikaner sehen ihn als ihren Lieblingssport an, Baseball auf Platz drei ist mit neun Prozent nur noch minimal beliebter. 18 Millionen aktive Fußballer gibt es im Land – so viele, wie nirgendwo sonst.
„Es stimmt, dass der Fußball in den USA total im Kommen ist. Er wird immer mehr in die Unis integriert und das internationale Interesse wächst“, sagt Nadir. Auch das Niveau werde immer besser. Einige Topteams in seiner Conference, der Liga der Region, hätten Spieler in den Reihen, die in der deutschen Bundesliga der A-Junioren bestehen könnten, glaubt Nadir: „Da gibt es unfassbares Potenzial.“ Der College-Sport-Verband NCAA fördert den Fußball zunehmend, der zudem von den über Jahrzehnte aufgebauten hochprofessionellen Strukturen an den Colleges profitiert.
Selbst an der verhältnismäßig kleinen Universität in South Carolina fand Ibrahim Nadir Trainingsbedingungen vor, die er aus Oberhausen nicht kannte. Ein Trainerstab aus fünf Trainern, Psychologen, Ernährungsberater, Physiotherapeuten und Sportärzte, dazu ein großer Sportkomplex mit zahlreichen Sportplätzen und einem Hochglanz-Kraftbereich. Die Erwartungen sind dementsprechend hoch. „Uns wurde immer unterschwellig vermittelt: Ihr müsst abliefern, jedes Spiel“, sagt Nadir. Wer das nicht konnte, auf den setzte der Trainer nicht mehr und bekam das Stipendium gekürzt. Für die meisten ausländischen Studenten bedeutet das, dass sie das College nicht mehr finanzieren können und verlassen müssen.
Die College-Saison dauert von August bis November. In dieser Zeit gibt es 18 Spiele, meist zwei Mal die Woche. Hinzu kommen lange Reisen zu den Auswärtsspielen. Und auch die akademischen Leistungen dürfen nicht zu kurz kommen. Zwar bekommen Sportler von den Professoren viel Freiraum, dürfen Klausuren vor oder nach den Spielen schreiben. Dennoch muss auch das Studium bewältigt werden. Nicht jeder habe mit dem Druck umgehen können, sagt der Willicher mit irakischen Wurzeln.
Ibrahim Nadir aber hielt ihm stand. Vor Klausuren schlug er sich manchmal die Nächte in der Uni-Bibliothek um die Ohren und wurde auch Mal um 6 Uhr morgens von überraschten Putzfrauen aufgefunden. „Es gab Zeiten, da war ich durch ein Siegtor in letzter Minute der gefeierte Held und dann saß ich zehn Minuten später zum Lernen in der Bibliothek.“ Partys und ein typisches Studentenleben waren nicht drin. Der Trainer, ein ehemaliger Army-Offizier setzte auf Drill. Wer während der Saison dabei erwischt wurde, wie er feierte und Alkohol trank, der drohte, aus der Mannschaft zu fliegen. Nadir hielt sich daran, schloss sein Studium gar mit der Note 1,1 ab und toppte das im Master. Vielmehr: Der schnelle und dribbelstarke Linksaußen wurde 2019 in die Elf der Saison in seiner College-Liga gewählt und bekam Angebote von großen Universitäten.
Er aber ging für den Master an ein kleineres College in Oakland, Kalifornien, weil er dort das Studium verkürzen konnte. Nun ist er wieder in Willich und erst 23 Jahre alt. „Die Intention war von Anfang an, in die USA zu gehen und das Akademische durchzuziehen, um danach einen freien Kopf zu haben. Die Freiheit haben, zu reisen, andere Länder zu sehen und dort nebenher semiprofessionell Fußball spielen zu können“, sagt Ibrahim Nadir. Skandinavien reize ihn, nach Island habe er über Mitspieler in den USA schon Kontakte zu Vereinen. Aber auch Asien oder Australien kämen mittelfristig infrage. Der Traum Fußball spielend die Welt zu entdecken – er lebt.
Agentur Verschiedene Sportagenturen vermitteln Fußballtalente an die US-Universitäten. Eine bekannte ist Sport-Scholarships aus Mönchengladbach.
Prozedere Man bewirbt sich mit Highlight-Videos, muss einen schriftlichen Aufnahmetest bestehen und bei Sichtungsturnieren überzeugen. Daran orientiert sich die Angebotsauswahl.