Rüsselsheim. Eine Sache hat Volkan Tekin mit dem 96-fachen argentinischen Nationalkeeper Sergio Romero gemeinsam: Nur Mario Götze kam an ihm vorbei. Für Romero bedeutete dies 2014 ein verlorenes WM-Finale. Tekin war es egal. 2009, die U19 von Mainz 05 gewinnt 2:1 gegen den BVB, wird erst- und einmalig Deutscher Meister. Volkan Tekin steht im Tor, Volkan Tekin stemmt die Schale hoch.
Die Nachwuchsleistungszentren wecken Träume. Man trainiert und spielt dort, wo auch die Profis zu Hause sind, sieht ihre ikonischen Bilder an der Wand, lernt sie kennen, trägt dieselben Farben, dasselbe Wappen. Auch die Rationalsten unter den Jung-Fußballern entwickeln da Sehnsüchte, Ambitionen. Sie alle müssen, weil es für die meisten nicht zu Profis, Bundesliga- und Nationalspielern reicht, mit Enttäuschungen klar kommen. Erst recht, wenn man mal die Schale in der Hand hielt, zum deutschlandweit besten Team seines Jahrgangs zählte.
André Schürrle und Jan Kirchhoff, Petar Sliskovic und Eugen Gopko, die Namen sind noch präsent. Andere hatten und haben gute Amateur-Karrieren, wieder andere verschwanden komplett von der Bildfläche. Die meisten aus der Meister-Mannschaft halten Kontakt, über eine gemeinsame Chat-Gruppe, in der auch Nachwuchschef Volker Kersting oder der aktuelle U17-Trainer Sören Hartung sind. Zum Zehnjährigen gab es eine Feier. Die Jungs, die 05 zum Meister machten, das hallt nach, war im Rückblick für viele der Karriere-Höhepunkt. Für Tekin war es lange auch ein Ansporn. Fast ein Jahrzehnt dauerte es, bis er sich vom Traum, der damals, im Mainzer NLZ, geweckt wurde, lösen konnte.
"Zeit bei 05 war super"
Neulich, im Gespräch mit dem Wiesbadener Kurier, erinnerte sich Tekin noch einmal an Götzes Tor. Das von 2014. „Ich habe das Tor bejubelt, dann aber auch sofort gedacht: Mit den Jungs hast du zusammengespielt. Jetzt sind sie Profis und sogar Weltmeister, und du spielst in der Verbandsliga beim FV Biebrich“, sagte er damals. Das eigene Finale hallte nach. 28. Juni 2009, „bis zu diesem Tag lief alles super“. Als Fünfjähriger begann der gebürtige Wiesbadener bei Schwarz-Weiß Wiesbaden mit dem Fußballspielen, im Sturm, links hinten, im Tor. Alles ging. Als C-Jugendlicher trug er erstmals das 05-Dress, später auch die Kapitänsbinde. „Die Zeit bei 05 war super, hat mir sehr viel Spaß gemacht“, erzählt Tekin, „unser Teamgeist, unser Spielverständnis waren hervorragend.“
Tuchel nimmt ihn zu den Profis
Ein anderes Datum ist ebenfalls eingebrannt ins Gedächtnis: der 15. September 2009. U19-Meistertrainer Thomas Tuchel war zum Profi-Chefcoach befördert worden und nahm Tekin mit ins Profi-Training. Die Einheiten unter dem aktuellen Chelsea-Trainer waren etwas Besonderes, schon zu A-Jugend-Zeiten. „Er hat uns taktisch extrem entwickelt, gab der Mannschaft einen Riesen-Schub. Am Saisonanfang hätte ich nie gedacht, dass wir ins Meisterschaftsfinale kommen könnten.“ In der Vorbereitung wurden nur ganz am Anfang Runden gedreht, dann ging alles mit Ball. Hoch modern, hoch effektiv. „Wir haben ab der 60. sehr viele Spiele noch gewonnen.“
Nach Verletzung fällt er in ein mentales Loch
Vollgepumpt mit Selbstvertrauen und Ambitionen, startete Tekin in sein erstes Aktiven-Jahr, als Teil des Regionalliga-Kaders, aber immer wieder mit Gelegenheiten sich im Profi-Training zu behaupten. Bis ihm ein Mitspieler in einer Eins-gegen-Eins-Situation unabsichtlich, unglücklich aufs Schienbein fiel. Tekin musste vom Platz getragen werden. Starke Prellung, hieß es. In Wirklichkeit war das Syndesmoseband gerissen. Die Verletzung, die Fehldiagnose kosteten den jungen Keeper Monate, er fiel in ein Loch. „Danach habe ich lange gebraucht, um wieder auf mein altes Niveau zu kommen.“
"Hätte lieber einen deutschen Pass gehabt"
Bei Mainz 05 II blieb Tekin ohne Einsatz. „Ich hatte sehr viel Pech in meiner Karriere“, blickt er zurück. Schon im Winter seiner Meister-Saison lag ein Erstliga-Vertrag aus der Türkei auf dem Tisch. Tuchel riet ihm zum Verbleib, sah Potenzial. Mit dieser Entscheidung hadert Tekin nicht, Meister zu werden, das nimmt einem niemand. Mit vielen anderen schon. Als die türkische U21 und U23 riefen, habe er nicht abreisen dürfen, weil im Klub Torwart-Knappheit herrschte. „Ich hätte lieber einen deutschen Pass gehabt“, blickt der gebürtige Wiesbadener mit türkischer Staatsbürgerschaft auf seine Teenager-Zeit zurück. In der Südwest-Auswahl waren die Ausländer-Plätze reglementiert. „Als deutscher Jugend-Nationalspieler wäre meine Zukunft besser gewesen.“
Wehen Wiesbaden: Viele Versprechungen nicht eingehalten
Ein Jahr, nachdem er am Bruchweg die Schale in die Luft hob, verließ Tekin die 05er. Bei Wehen Wiesbaden II habe es viele Versprechungen gegeben, die nicht gehalten wurden. Nur ein Regionalligaeinsatz sprang heraus. „Ein Schuss ins eigene Bein“, sagt Tekin heute.
SV Wiesbaden und Biebrich hießen die nächsten Stationen. Der Profitraum lebte, der Abstand wurde immer größer. In der Rückrunde 2014/15 ging es zurück nach Mainz, zu Oberligist SV Gonsenheim. Tekin präsentierte sich in glänzender Form, spricht im Rückblick von einer tollen Zeit. Sie brachte ihm einen Profivertrag, bei der Spvgg. Neckarelz.
Er schaffte es, den designierten Stammkeeper zu verdrängen. Doch das Pech blieb ihm treu. Der erste Fall, so fühlte es sich an, in den Amateurfußball war schwer für ihn. „Ich musste damit klar kommen, es nicht geschafft zu haben, dass die Blase geplatzt ist. Auch wenn die Hoffnung noch da war.“ Am Odenwald schien der Sprung doch noch zu klappen. Doch bald rückte die Steuerfahndung an. Es ging, im Juristendeutsch, um die nicht gesetzeskonforme Behandlung von Entgeltzahlungen im Rahmen von Arbeitsverhältnissen, und zwar in 645 Einzeltaten. Schon in der Winterpause suchten zahlreiche Spieler das Weite, in den folgenden drei Jahren ging es drei Spielklassen hinab. Tekin ging zum Saisonende.
Der nächste Profivertrag, diesmal in der türkischen zweiten Liga, platzte, weil der Klub einer Transfersperre unterlag. „Da habe ich gesagt, es ist wahrscheinlich mein Schicksal.“ Eine Ausbildung hatte Tekin nicht, seine Lehre als Fitnesstrainer zu Wiesbadener Zeiten abgebrochen. „Ich dachte, es wird mit Fußball funktionieren.“ Nach dem Aus in Neckarelz wollte er vom Fußball nichts mehr wissen, schaute monatelang keine Spiele, reagierte nicht auf Nachrichten seiner Kumpels. Dann bat sein Bruder ihn, bei Karadeniz Wiesbaden auszuhelfen. „Spaß haben, ein bisschen kicken“, danach stand ihm der Sinn.
So richtig warm geworden ist Volkan Tekin mit dem Amateurfußball noch nicht. Die Messlatte, die das Leistungszentrum am Bruchweg damals gesetzt hatte, hängt hoch. Ja, um die Ernährung hätte er sich mehr kümmern sollen. Und das mit der Pünktlichkeit war nie seine größte Stärke. Doch im Training, auch in der Kraftkammer, habe er sich nie hängen lassen. Pech habe er oft gehabt, schlechte Berater.
Spaß hatte er zwei Jahre als Torwarttrainer bei Hassia Bingen. Und Erfolge konnte er feiern, neben dem Sprung mit der Hassia in die Oberliga gelangen ihm als Aktiver drei Aufstiege mit Türk Gücü und Dersim Rüsselsheim. Schöne Momente, klar, aber viele Worte verliert er darüber nicht. Der Fokus liegt auf dem Beruflichen. Tekin, der im Raum Hanau wohnt, arbeitet in Außendienst und Akquise für das auf Waschraumhygiene spezialisierte Unternehmen CWS. „Ich hoffe und denke, dass ich jetzt angekommen bin“, sagt er. Ein lautes „endlich“ schwingt mit.
Zur Serie: In dieser Reihe porträtieren wir ehemalige NLZ-Spieler, die den Sprung zum Profi nicht gepackt haben und nun bei Amateurteams aus der Region spielen. Sie erzählen uns, wie nah dran sie wirklich am großen Traum Profifußball waren und welche Ambitionen sie jetzt haben - sowohl auf als auch neben dem Platz.
- Teil 1: Linus Wimmer (SV Eintracht Trier)
- Teil 2: Lukas Fischer (TSG Bretzenheim)
- Teil 3: Lars Hermann (TSV Schott Mainz)
- Teil 4: Nik Rosenbaum (SV Alemannia Waldalgesheim)
- Teil 5: Joshua Iten (SG Hüffelsheim)
- Teil 6: Bilal Marzouki (FC Maroc Wiesbaden)
- Teil 7: Kevin Frey (VfB Bodenheim/TSG Mainz Futsal)
- Teil 8: Giorgio del Vecchio (TSV Schott Mainz)
- Teil 9: Marco Waldraff (SV Niedernhausen)
- Teil 10: Manuel Konaté-Lueken (RW Walldorf)
- Teil 11: Sandro Loechelt (Wormatia Worms)
- Teil 12: Marvin Esser (SG Walluf)
- Teil 13: Patrick Huth (TSG Pfeddersheim)
- Teil 14: Ilker Yüksel (Hassia Bingen)
- Teil 15: Tim Burghold (SV Niedernhausen)
- Teil 16: Noel Wembacher (RW Darmstadt)
- Teil 17: Tobias Schneider (RWO Alzey)
- Teil 18: Noah Michel (Türkgücü Friedberg)
- Teil 19: Marleen Schimmer (San Diego Waves)
- Teil 20: Deniz Darcan (SG Eintracht Bad Kreuznach)
- Teil 21: Max Pflücke (FC Basara Mainz)
- Teil 22: Jann Bangert (SV Rot-Weiß Hadamar)
- Teil 23: Aleksandar Biedermann (Wormatia Worms)