2024-04-25T14:35:39.956Z

Ligavorschau

Nur von Coman zu bezwingen

HESSENLIGA: +++ Tolga Sahin hat sich bei Teutonen etabliert / Nationaltorwart Aserbaidschans / Testspiel-Reisen nach Russland und China +++

Watzenborn-Steinberg. Der „Schnipsel“ auf der Videoplattform Youtube, veröffentlicht vom französischen Fußballverband, ist knapp zwei Minuten lang. Zu sehen ist eine kurze Zusammenfassung der Partie zwischen Frankreich und Aserbaidschan aus dem März 2015 in der Qualifikationsrunde zur U19-Europameisterschaft. „Les Bleus“ fahren Angriff um Angriff, aber immer wieder ist beim Keeper Aserbaidschans Endstation. Sein Name ist Tolga Sahin, der seit der Saison 2016/17 für den Hessenligisten SC Teutonia Watzenborn-Steinberg zwischen den Pfosten steht.

Der einzige Franzose, der Sahin damals doch noch zweimal bezwingen konnte, war kein Geringer als Kingsley Coman, der Vizeuropameister und heiß gehandelte Nachfolger von Robben und Ribery beim deutschen Rekordmeister FC Bayern München. „Coman ist schon damals aufgefallen“, erinnert sich Tolga Sahin lebhaft an diese 90 Minuten und den prominenten Gegenspieler, „unser Trainer hatte ihn schon vorher in der Besprechung erwähnt und wir haben uns dann bei transfermarkt.de angeschaut, dass er da bereits einen Millionenwert hatte.“

Der gebürtige Wetzlarer Sahin hat für seine erst 20 Lebensjahre eine durchaus bemerkenswerte Fußball-Vita vorzuweisen. Über die Stationen Eintracht Wetzlar und VfB 1900 Gießen landete er im Bundesliga-Nachwuchs des FSV Mainz 05. Während eines Freundschaftsspiels der Mainzer gegen die Jugendnationalmannschaft Aserbaidschans sprach der Torwarttrainer der Gäste aus dem Kaukasus Sahins Vater an, ob sein Sohn sich vorstellen könne, für die U19 des Landes aufzulaufen. Sahins Großeltern stammen aus Aserbaidschan, seine Eltern aus der Türkei. Anfangs zögerte Tolga Sahin, ehe ihn der deutsche Chefcoach und Fußball-Weltenbummler Nicolai Adam zu überzeugen wusste. Sahin bestritt 2014 und 2015 10 Länderspiele, darunter namhafte Gegner wie eben Frankreich, aber auch England, Dänemark oder Russland, wohin er mit dem Team eine Testspiel-Reise unternahm. „Das war in St. Petersburg. Neben den vier Spielen hatten wir oft zweimal Training am Tag, eine Stadtführung gab es auch“, schildert der angehende Fachabiturient, der sich mit seinen Mitspielern auf Türkisch verständigte, über das Programm dieser Reise.

Lachen muss der 20-Jährige, wenn er an einen Trip denkt, der ihn einige Flugstunden weiter weg als Russland führte. Mit der A-Jugend der Offenbacher Kickers – nach der Station in Mainz hatte Sahin seine Zelte für ein Jahr beim 1. FC Kaiserslautern aufgeschlagen – ging es nach China. „Das ist eine komplett andere Welt, das kann man nicht beschreiben. Nur Hochhäuser und zahllose Fabriken. Ich weiß noch, dass ich einen Motorradfahrer mit einem Kind auf den Schultern gesehen habe.“ Von den Kickers wechselte der Torhüter im Sommer 2016 zu den Teutonen, die gerade in die Regionalliga Südwest aufgestiegen waren. Bis in die Schlussphase der Runde belegte er in der Hierarchie der Torhüter hinter Stammkeeper Yannik Dauth und Stephen Jäckel Rang drei. Als sich Dauth und Jäckel nahezu zeitgleich verletzten, musste Sahin urplötzlich ran – und löste diese Aufgabe erstaunlich unaufgeregt und souverän. „Auf solch eine Chance wartet man natürlich. Das war ein Top-Erlebnis in den letzten sechs Spielen“, blickt er zurück. Jäckel laboriert bis heute an einem Kahnbeinbruch, bei Dauth besteht angesichts der Diagnose eines Knorpelschadens vierten Grades in beiden Knien sogar die große Gefahr, dass er seine Laufbahn beenden muss.

Sahin ist in der Hessenliga weiterhin die Nummer Eins – oder „Stellvertreter“ der verhinderten Jäckel und Dauth? „Darüber mache ich mir keine Gedanken. Wenn die Beiden fit sind, wird der Trainer entscheiden“, antwortet Sahin auf die Frage nach seinem aktuellen Status diplomatisch. Ein Lautsprecher ist er nicht, dennoch klingt Sahin selbstbewusst und von seinen eigenen Fähigkeiten überzeugt, wenn er das sagt. Grund dazu hat er allemal, denn an ihm lässt sich der schwache Saisonstart des SC wahrlich nicht festmachen, weil er seine Leistung zuverlässig brachte und fehlerfrei agierte. Dass er trotzdem nach sieben Matches fast zwei Gegentore im Schnitt kassiert hatte, wurmte Sahin natürlich dennoch, wie er einräumt: „Das hat mich geärgert, zumal ich ja nichts machen konnte. Die Gegner hatten drei, vier Chancen und haben die eiskalt genutzt, da schaut man als Torwart automatisch auch schlecht aus.“

Es gäbe viele Gründe, warum es anfangs überhaupt nicht funktionierte bei den Teutonen, meint Sahin: „Das sieht vermutlich jeder unterschiedlich. Wir haben 15 neue Spieler, da musste sich erst alles zusammen finden. Bei der vorhandenen Top-Qualität ist das schwierig zu erklären.“ Mit zwölf Toren und sechs Punkten binnen fünf Tagen unter dem Parson-Nachfolger Daniyel Cimen scheint der Knoten geplatzt zu sein. Wobei die Kantersiege über Neuling Neu-Isenburg und Tabellenschlusslicht Vellmar, die wegen der hohen Belastung in der englischen Woche ab der 60. Minute kräftemäßig spürbar abbauten, nur bedingt aussagekräftig sind. Tolga Sahin schlägt in die selbe Kerbe: „Wir müssen da vorsichtig sein. Erst in den kommenden Wochen werden wir merken, wo es lang gehen wird.“

Am Samstag gastieren die Grün-Weißen in Lohfelden, bevor die hoch interessanten Duelle mit dem Spitzenduo Lehnerz und Dreieich sowie den ebenfalls stark eingeschätzten Fuldaern womöglich die Richtung weisen werden. Der Aufstieg ist gleichwohl (momentan) kein Thema für Sahin (“Wir wollen so viele Punkte wie möglich holen“). Und persönliche Ziele? „Klar ist es ein Traum, so hoch wie möglich zu spielen. Da muss man gucken, ob es klappt“, hat der Wetzlarer den Sprung in den Profibereich, beginnend ab der Regionalliga, nicht aus dem Blick verloren. Mit erst 20 spricht die Zeit für ihn, daher liebäugelt Sahin damit, nach dem Fachabitur im Frühjahr 2018 zumindest ein Jahr voll auf die Karte Fußball zu setzen, wenngleich „man realistisch sein sollte, was ein zweites Standbein anbelangt. Studieren kann ich jedoch auch später noch.“

Die Nominierung für die U21 Aserbaidschans hat er übrigens ebenso keineswegs abgehakt. 2016 hat er einen Lehrgang absolviert, der Kontakt ist nicht abgebrochen. Einer seiner Konkurrenten ist Mustafa Özhitay, dritter Torwart von Südwest-Regionalligist SSV Ulm. Also versucht Sahin, mit Watzenborn erfolgreich zu sein und Werbung für sich zu betreiben. Da die Pohlheimer zumeist das Geschehen diktieren, kommt Sahin selten unter „Dauerbeschuss“. Wenn er gefordert wird, muss er von Null auf Hundert zur Stelle sein. Wie in Vellmar, als er von Daniyel Cimen ein Sonderlob einheimste, weil er seine Farben mit einer Glanzparade vor dem frühen 1:2 und damit vor einem vermeintlich ungünstigeren Verlauf der Partie bewahrte. Falls sich die Entscheidungsträger in Aserbaidschan Kostproben von Sahins Können ins Gedächtnis rufen möchten, erfüllt der Zwei-Minuten-Youtube-Clip vom Quali-Match diesen Zweck in jedem Fall. Übrigens: Eins der Tore Kingsley Comans damals war lediglich ein schnöder Abstauber – nach einer prächtigen Tat Sahins.



Aufrufe: 012.10.2017, 22:10 Uhr
Thomas Suer (Gießener Anzeiger)Autor