2024-06-11T15:31:41.480Z

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Foto: Michael Gohl
Foto: Michael Gohl

"Fußball ist kein Spaß"

Marc Roch fordert Disziplin, Energie und Charakterstärke von seinen Spielern.

Kaum hat Marc Roch die Speisekarte zugeklappt, da tischt er eine rhetorische Vorspeise auf. „Spaß am Fußball gibt es im Leistungssport nicht, mal abgesehen von den Momenten nach einem gewonnenen Spiel“, sagt der U19-Trainer von Rot-Weiss Essen, als er zum Mittagessen im „Il Mercato“ auf der Düsseldorfer Friedrichstraße sitzt. „Spaß können wir streichen und ersetzen durch Interesse.“
Das klingt nach Kaderschmiede. Für den 44 Jahre alten Coach ist Fußball ein Spiel, aber keine Spielerei. „Talent haben viele, nur die landen später vielleicht deshalb nicht in den oberen Klassen, weil sie keinen Bock haben, mehr zu machen als andere.“

Seit sieben Jahren schleift Roch fußballerische Rohdiamanten. Der gebürtige Düsseldorfer zählt zu den profiliertesten Jugendtrainern am Niederrhein. An der Essener Hafenstraße bildet er mit Marco Rudnik ein gleichberechtigtes Trainerduo, das den Nachwuchs des Fußball-Viertligisten in der U19-Jugend-Bundesliga coacht. Vor Saisonbeginn zählten Experten das RWE-Team zu den potenziellen Absteigern. Nach der Hinrunde steht die Mannschaft auf Platz acht im gesicherten Mittelfeld. Gleich am ersten Spieltag sorgten die Nachwuchskicker von Rot-Weiss für Furore, als sie bei der Einweihung ihres neuen Stadions den hochfavorisierten Revierrivalen Borussia Dortmund mit 3:2 besiegten – vor 8.000 Zuschauern.

Seine Spieler habe diese Rekordkulisse offenkundig euphorisiert, analysiert Roch nüchtern. „Viele konnten damit nicht umgehen. Danach sind wir ein bisschen abgekackt.“ Katerstimmung kam auf. An den nächsten Spieltagen lief es nicht mehr rund. Doch der agile Fußballlehrer kann mit dem Auf und Ab umgehen. Im Trainingslager während der Saisonvorbereitung zeichnet Roch seinen Kickern „die Lernkurve des Menschen“ an die Tafel – auf Hochs folgen Tiefs. Die Essener Nachwuchsspieler lernen nicht nur schießen, flanken und passen, sondern auch mit Rückschlägen und Niederlagen fertig zu werden. Eine Schule fürs Leben. Dumpfen Drill und schneidiges Autoritätsgehabe lehnt der couragierte Coach ab. „Bei jeder Übung im Training musst Du den Spielern erklären können, weshalb sie das machen.“

Für Roch, der hauptberuflich bei einer Versicherung als Abteilungsleiter für Industrieversicherungen arbeitet, ist seine Tätigkeit als Jugendtrainer keine Nebensache: „Das ist eine Passion.“ Bereits als aktiver Fußballer dribbelte er zwischen Beruf und Berufung. Als Amateur bestritt der Mittelfeldakteur drei Bundesligaspiele für Bayer 05 Uerdingen unter Trainer Friedhelm Funkel, der Roch bei seinem Heimatklub VfR 06 Neuss entdeckt hatte. Als die Uerdinger mit einem Profivertrag winkten, entschied er sich für ein sicheres Einkommen als Versicherungskaufmann. Seiner Fußballleidenschaft frönte er später beim FC Zons und der SSVg Velbert, wo er in der höchsten Amateurklasse kickte.

Mit Funkel, Dietmar Grabotin und Robert Begerau hatte Roch gleich drei ehemalige Bundesliga-Kicker als Trainer. „Von jedem habe ich etwas mitgenommen“, bekennt er. Wenngleich sich Technik und Taktik zwischenzeitlich revolutioniert haben. „Wir haben damals noch mit Libero und Manndeckern gespielt, die dir von hinten richtig auf die Füße gegangen sind“, erinnert sich Roch an rustikale Kickerkünste. Alles hat seine Zeit. „Heute gibt es weniger Schienbeinbrüche, aber mehr Kreuzbandrisse ohne gegnerische Einwirkung.“

Fix machte der Funkel-Schüler nach Beendigung seiner aktiven Laufbahn den C-, B- und A-Trainerschein. Im Jahre 2004 heuerte er beim damaligen Landesligisten FC Grevenbroich-Süd an – während einer laufenden Saison, in scheinbar aussichtsloser Lage. Der Klub stand mit vier Punkten abgeschlagen am Tabellenende. Roch gelang nach einer schmerzhaften Totaloperation im Mannschaftskader schließlich der Klassenerhalt. Doch als Seniorentrainer war er bald ziemlich desillusioniert. „Die Spieler in diesen Klassen wollen nichts investieren und mit möglichst wenig Aufwand noch ein paar Kröten mitnehmen.“ Ständig habe er „gegen diese Null-Bock-Mentalität“ ankämpfen müssen.

Nach den Höllenqualen in der Landesliga traf der heute im rheinischen Willich beheimatete Roch bei seinem Wechsel in den Jugendfußball vergleichsweise paradiesische Zustände an. Das deutsche Desaster bei der EM 2000 in den Niederlanden und Belgien habe den DFB und die Bundesliga- Klubs damals wachgerüttelt. Seither werde systematische Nachwuchsförderung betrieben statt ständig teure Ballvirtuosen aus dem Ausland zu verpflichten. „Da haben wir jahrzehntelang den gleichen Unsinn gemacht wie mit der Greencard bei den Informatikern statt hier bei uns die Leute selbst auszubilden“, sagt der Fußballlehrer und jongliert mit seiner Gabel filigran in einer Penne mit Lachs und Senfsoße. Heute sei die Nachwuchsförderung der deutschen Kicker auf Augenhöhe mit Holland, Frankreich und Spanien. Schwerreiche Vereine aber übertrieben es längst mit den Rundum- Sorglos-Paketen für ihren Nachwuchs, beklagt Roch. „Da werden die Spieler schon viel zu sehr verwöhnt und verhätschelt“. Zudem verdrehten ihnen nicht selten dubiose Spielerberater den Kopf.

Gegenwärtig sieht Roch fatale „Fehlentwicklungen“ im deutschen Nachwuchsfußball. Es gebe einen gefährlichen Trend, zunehmend auf kräftige Spieler zu setzen. „Da werden häufig körperlich sehr starke Spieler ohne besonderes fußballerisches Talent verpflichtet. Auf dem Platz suchen sie fast ausschließlich Lösungen über ihre Kraft und finden sie meist auch.“ Viele Scouts fokussierten sich auf Spieler, die Tore in Serie schießen. In den Jugendteams seien dies zumeist die körperlich überlegenen Akteure. Kleingewachsene, technisch starke Spieler fielen oftmals durchs Raster, beklagt Roch. „Ein Mesut Özil hatte doch nichts anderes als seine Kreativität, um sich durchzusetzen.“

Als Roch 2006 die U16 bei Rot-Weiss Essen übernahm, bemerkte er rasch, dass der Verein im Schwitzkasten der Bundesliga- Klubs aus Schalke, Dortmund, Bochum und Duisburg steckt. Talentierte Spieler werden von den Top-Klubs bereits im Alter von zehn bis 14 Jahren an der Hafenstraße abgeworben. Zwei, drei Jahre später kommen viele dieser Nachwuchs-Kicker wieder retour zu RWE. Dieser Fußballstandort sei „Fluch und Segen zugleich“, findet Roch. In den großen Vereinen fehle häufig „die Geduld“ bei der Entwicklung von Profi-Kickern. Viele Nachwuchs- Fußballer, die bei den Bundesligisten frühzeitig scheitern, landen bei Rot-Weiss Essen – und machen mitunter überraschende Karrieren.

In Rochs U16 spielte seinerzeit der auf Schalke wegen seiner Schwerfälligkeit aussortierte Pierre-Michel Lasogga. In den vergangenen beiden Spielzeiten schoss der kantige Stürmer 21 Bundes- und Zweitliga- Tore für Hertha BSC. „Bei uns konnte er sich ohne großen Druck in Ruhe weiter entwickeln“, berichtet der RWE-Coach. Auch Torhüter Lukas Raeder schaffte erst an der Hafenstraße den Durchbruch, nachdem er in der U16 des MSV Duisburg meistens nur auf der Bank gesessen hatte. Unter Roch geriet der talentierte Keeper mit Essens U17 ins Rampenlicht. Nach einer weiteren Station bei Schalke 04 verpflichtete Bayern München Raeder zu Saisonbeginn als dritten Torwart. Der aktuelle U19-Torwart von RWE, Hendrik Bonmann, hat erst vor wenigen Wochen ab der kommenden Spielzeit einen Lizenzspielervertrag beim Meister Borussia Dortmund unterschrieben. Bonmann war nach der U15 in Schalke aussortiert worden. Mit 1,70-Meter sei er zu klein, teilten ihm die dortigen Trainer mit. Heute misst Bonmann 1,94 Meter und zählt zu den deutschen Top-Talenten im Tor.

„Unfassbar“ findet Roch „die viel zu verfrühten Beurteilungen“ über die körperlichen Fähigkeiten der Nachwuchskicker. „Ein 13- bis 14-jähriger hat noch drei, vier Jahre Wachstum und körperliche Veränderungen vor sich.“ Lasogga und Raeder sind beide so genannte „Dezember-Jungs“, also spät im Kalenderjahr geborene Spieler, die nach den Beobachtungen des RWE-Jugendtrainers aufgrund der Stichtagsregelungen in den Kadern der großen Klubs wie in den Auswahlmannschaften der Verbände eher Exoten sind. Da verlangt Roch „einfach mehr Geduld“ und „ein genaueres Hinsehen“ bei Vereinen und Verbänden. Hier lägen „noch große Potenziale“ im Nachwuchsfußball, prognostiziert er. „Oder will irgendjemand seriös behaupten, dass Kinder, die am Ende eines Kalenderjahres auf die Welt kommen, von Natur aus weniger Talent haben als diejenigen, die im ersten Quartal geboren sind?“

Die Mechanismen im Nachwuchs-Business kennt Roch auch aus der Rolle des Fußballvaters. Als er 2010 von RWE als „Ausbildungsleiter“ in das Nachwuchsleistungszentrum zu Fortuna Düsseldorf wechselte, nahm er seinen Sohn Marvin mit an den Flinger Broich. Bald hatten einige benachbarte Bundesligisten den Trainersohn als spielstarken Sechser im Visier. Zu Saisonbeginn wechselte Marvin in die U14 von Borussia Mönchengladbach. „In dieser Region ist das der reifste und am besten organisierte Klub in der Nachwuchsarbeit“, urteilt Roch. Seine Tätigkeit in Düsseldorf war damit beendet. Der Transfer des Trainersohnes sei der Vereinsführung bei Fortuna „nicht vermittelbar“, bekam Roch zu hören. Daraufhin packte er seine Sachen und übernahm die U19 bei Rot-Weiss Essen.

Bei dem Viertligisten arbeitet der Fußballlehrer „unter extrem bescheidenen Rahmenbedingungen“. Elf Mannschaften müssen sich bei RWE je einen Kunstrasenund einen Ascheplatz teilen. Die personellen und finanziellen Ressourcen seien arg limitiert, klagt Roch. „Normalerweise bist du damit gar nicht konkurrenzfähig in dem hiesigen Ballungsraum.“ Über eine Scouting- Abteilung für den Nachwuchs – bei den Bundesligisten längst Standard – verfügt der vor drei Jahren in die Insolvenz gegangene Regionalligist nicht. „Wir sind auf unser eigenes Netzwerk angewiesen“, sagt Roch. Als U17-Trainer in Essen holte er sich seine Spieler mitunter sogar vom Bolzplatz. Zwei seiner Kicker avancierten später in der Türkei zu Jugendnationalspielern. Seither gilt der Essener Jugendtrainer bei türkischen Vätern als Geheimtipp. Und welche Rolle spielt Geld im Nachwuchsfußball? „Kleinkram bei RWE“, entgegnet Roch, „die spielen hier auf Minijob-Basis.“ Wenn ein junger Spieler um 200 Euro feilsche, könne er gleich wieder gehen. „Die Jungs verbrennen doch im Kopf.“

Roch redet sich bei einem Espresso in Rage über Minimalisten und Lau-Malocher, die sich allein auf ihr Talent verließen, um sich bequem den Weg in den Profifußball zu bahnen. „Das haut nicht hin“, impft der Jugendtrainer seinen Spielern ein. Wer nicht Disziplin, Energie und Charakterstärke aufbringe, der werde brutal scheitern in diesem Geschäft. „Du siehst alles auf dem Platz, was du kannst und was du nicht kannst“, sagt Roch, „beim Fußball kannst du nicht pfuschen.“

Aufrufe: 012.3.2013, 07:30 Uhr
Johannes NitschmannAutor