2024-06-17T07:46:28.129Z

Allgemeines
– Foto: Thomas Rinke

Heile Welt im Fußball-Kreis Stade?

Gewalt gegen Schiedsrichter - Wie steht es um die Schiedsrichter im NFV-Kreis Stade?

Es kocht gewaltig im deutschen Amateurfußball. Schiedsrichter werden Opfer von Gewalt und Anfeindungen, sie streiken, Spiele werden massenhaft abgesagt. Aber wie steht es um die Schiedsrichter im NFV-Kreis Stade?

Der Fußball-Kreis Stade sei auf Rosen gebettet, hier sei die Welt noch in Ordnung. Das sagen Ulrich Mayntz und Helmut Willuhn, der Vorsitzende des NFV-Kreises und der des Kreisschiedsrichterausschusses unabhängig voneinander und im Hinblick auf die Lage der hiesigen Schiedsrichter. „Meilenweit“ sei der Kreis von den Problemen entfernt, die anderswo die Schlagzeilen bestimmen, sagt Willuhn.

Da wird in Hessen ein Schiedsrichter mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus geflogen, weil ein Spieler ihn bei einer Partie bewusstlos geschlagen hat. Da sind die Berliner Schiedsrichter, die aufgrund der Fülle an Gewalt und Diskriminierung streiken und so für 1500 Spielabsagen an einem Wochenende sorgen. Und da ist der DFB, der in einem Schreiben seine Solidarität für die Schiedsrichter ausspricht. Es kocht gewaltig im Amateurfußball.

„Die Gewalt wird enthemmter und brutaler“, sagt Professor Gunter Pilz, einer der führenden Sportsoziologen in Deutschland. Seine These: Die Sprache in den sozialen Medien werde brutaler. Das führe zu einer Enthemmung des Verhaltens. Zudem habe Deutschland die verfehlte Integrationspolitik eingeholt. Spannungen entstünden, weil traumatisierte Menschen, die in ihren Heimatländern brutale Gewalt erfahren hätten, allein gelassen würden. „Die Enthemmung der Gesellschaft ist nicht sportspezifisch. Wir dürfen nicht den Fußball an den Pranger stellen“, sagt Pilz. Würden alle Konzepte umgesetzt werden, gebe es keine Probleme. Die Vereine würden überfordert. Von Übungsleitern werde erwartet, Probleme zu lösen. Schulen hingegen setzten Sozialarbeiter ein. Sozialarbeit sei eine kommunale Aufgabe. „Warum hört das am Sportplatz auf?“, fragt Pilz.

Hin und wieder Probleme

Andererseits verweist Pilz auf die „vorbildliche Umsetzung der Präventionsarbeit“ beim Hessischen Fußballverband. Der biete jedem Verein kostenloses Konflikttraining. „Das wird von den Vereinen nur nicht nachgefragt“, sagt Pilz. Ein weiterer Aspekt: „Die Vorbildfunktion der Profis ist katastrophal.“ Das Verhalten einiger Trainer gegenüber den Schiedsrichtern vermittle den Eindruck, sie seien Freiwild. 0,05 Prozent aller 1,5 Millionen Spiele in Deutschland mussten in der vergangenen Saison wegen eines Gewaltvorfalls abgebrochen werden, schreibt der DFB. In Saison 2018/19 kam es zu 2906 Angriffen auf Schiedsrichter.

Der NFV-Kreis Stade hingegen scheint eine Ausnahme zu sein. In der Vorsaison wurde das „Skandalspiel“ zwischen Schwinge und Wiepenkathen abgebrochen, nachdem es zu tumultartigen Szenen zwischen Spielern und Zuschauern gekommen war. In dieser Saison ist Willuhn zufolge kein Spiel wegen eines Gewaltvorfalls abgebrochen worden. Dennoch gibt es hin und wieder Probleme. Schiedsrichter werden angefeindet und bedrängt, das zeigen zwei Beispiele aus der laufenden Saison: Laut Willuhn hat sich nach einem Kreisligaspiel ein Zuschauer vor dem Schiedsrichter aufgebaut und diesen mit dem Ellenbogen weggeschubst; der Verein musste die „Höchststrafe“ zahlen, 250 Euro. Vor wenigen Wochen wurde dann laut Willuhn ein junger Schiedsrichter in einem Kreisklassenspiel permanent von Spielern und Offiziellen bepöbelt. Noch am selben Abend sei dieser „mit sofortiger Wirkung“ von seinem Amt zurückgetreten, sagt Willuhn. „Das ist alarmierend.“

Schiedsrichter und Gewaltprävention

Im Vorstand des Niedersächsischen Fußballverbandes (NFV) werde die Gewalt auf dem Fußballplatz „rege besprochen“, sagt Sprecher Manfred Finger. „Das macht betroffen.“ Den blanken Zahlen nach zu urteilen, nehme die Gewalt allerdings ab. Ein Indiz dafür seien die Statistiken im VGH-Fairnesscup, den der NFV jährlich ausruft. Demnach zückten die Schiedsrichter weniger Karten. Der Quotient, der sich aus Karten, Einträgen in den Spielbericht und Sportgerichtsverfahren zusammensetzt, werde geringer.

Und dennoch hat der NFV das Verhalten von Zuschauern, Spielern und Offiziellen gegenüber Schiedsrichtern und den Umgang der Unparteiischen auf verbale und körperliche Gewalt in seine Seminare aufgenommen. „Gewaltprävention ist Bestandteil der Ausbildung der Schiedsrichter“, sagt Verbandsschiedsrichterobmann Bernd Domurat. Vereine könnten selbst am meisten leisten und auf Fans und Spieler eingehen. Sportgerichtsurteile, sagt Domurat, müssten abschreckende Wirkung haben. „Die Spieler müssen spüren, wenn sie eine Grenze überschritten haben“, sagt der oberste Schiedsrichter.

Wie wirken sich die Gewaltausbrüche nun auf das Image des Schiedsrichterwesens aus? Und: Bleibt der Nachwuchs im Kreis Stade weg? „Das verängstigt die jungen Menschen schon ein bisschen“, sagt Willuhn. Er hat beim letzten Schulungsabend vor den Anwärtern über das Thema gesprochen. „Es ist schwierig, jedes Jahr potenzielle Schiedsrichter dafür zu gewinnen.“ Aktuell liege die Zahl der Schiedsrichter bei knapp 200, vor fünf Jahren waren es rund 120.

Der NFV-Kreis-Vorsitzende Ulrich Mayntz pfeift selbst seit fast 20 Jahren. Er weiß, dass Beleidigungen oft von den Zuschauern ausgingen. „Als Schiedsrichter muss man auf Durchzug schalten“, sagt er, das sei Gewöhnungssache. Schließlich gehörten Emotionen dazu – aber nur bis zu einer bestimmten Grenze. „Die ist in anderen Regionen Deutschlands überschritten worden“, sagt Mayntz, „aber Gott sei dank nicht bei uns.“

Das sagt der Ex-Spieler

„Lass den Schiri in Ruhe.“ Regelmäßig habe ich diesen Satz vor Spielen von meinen Trainern gehört und es ignoriert. Die richtigen Worte zur richtigen Zeit können Wunder wirken. Nicht falsch verstehen: Selbstverständlich ist es unsinnig, den Schiedsrichter anzupöbeln. Aber als Kapitän können kleine Bemerkungen helfen. Eine nette Begrüßung hier, ein wenig Verständnis für einen fragwürdigen Pfiff da, oder ein Plausch – das alles wird den Schiedsrichter nicht manipulieren, aber kann helfen.

Der Klassiker: Ein Mitspieler meckert ohne Punkt und Komma. Wer schlau ist, verklickert dem Schiedsrichter so früh wie möglich, dass der motzende Mitspieler frustriert ist und es nicht so meint. „Der ist erst 20 und muss das noch lernen“, kann auch funktionieren.

Das Einschmeicheln: Ich habe oft nach Entscheidungen gefragt, wie sie zustande kamen. „Schiri, ich hab es nicht genau sehen können, wer stand im Abseits?“ Auf die Antwort folgte dann meine Replik: „Gut gesehen!“

Die Königsdisziplin: Kristallisiert sich im gegnerischen Team ein meckernder Hitzkopf heraus, habe ich sofort den Schulterschluss mit dem Schiedsrichter gesucht. „Bringt doch nichts, dass du jetzt hier den Schiri so angehst“, in Richtung des Gegenspielers hatte neben dem Vertrauensgewinn beim Unparteiischen oft den Nebeneffekt, dass der Pöbler sich noch mehr aufspielte.

Alexander Schulz ist Online-Chef beim TAGEBLATT und war bis zum Sommer aktiver Fußballer. In 27 Jahren Fußball hat er oft das Gespräch mit dem Schiedsrichter gesucht.

Das sagt der Ex-Trainer

Stefan Buchholz gehörte jahrzehntelang zu den erfolgreichsten Trainern im Landkreis, unter anderem vom FC Oste/Oldendorf, beim VfL Stade und der SV Ahlerstedt/Ottendorf. „Natürlich versucht man als Trainer, Einfluss auf den Schiedsrichter zu nehmen“, sagt Buchholz, der selbst auch lange gepfiffen hat und sich deshalb in den Schiedsrichter hineinversetzen könne. „Vorm Spiel habe ich mir immer schon ein Bild vom Schiedsrichter gemacht“, sagt Buchholz, es sei wichtig zu wissen, wie ein Schiri ticke, um ihn nicht unnötig zu provozieren. „Was ich aber nie abkonnte, ist, wenn ein Schiri keinen roten Faden hatte“, sagt Buchholz. Dann konnte er auch seine Mannschaft nicht auf die Schiedsrichterleistung einstellen.

Buchholz war immer impulsiv an der Seitenlinie. Während eines Spiels habe er auch des Öfteren seine Grundsätze vergessen. „Man tut dann auch mal Sachen, die einem unmittelbar danach schon leid tun.“ Buchholz gibt auch zu bedenken, dass ein Trainer im besten Fall vorbildlich bleiben sollte. „Schlechtes Benehmen überträgt sich auf die eigene Mannschaft, das ist kontraproduktiv.“ (jan)

Das sagt der Schiedsrichter

Der 24 Jahre alte Felix Bahr ist der am höchsten eingesetzte Schiedsrichter aus dem Landkreis. Seit dieser Saison pfeift der Mann von der SV Ahlerstedt/Ottendorf in der Regionalliga Nord. „Man muss durch das Haifischbecken Kreisklasse“, sagt Bahr, dort eignen sich die jungen Nachwuchsschiedsrichter das nötige, dicke Fell an. Als 15-Jähriger sei er in einem unterklassigen Kreisklassenspiel so sehr von den beiden Herrenmannschaften angepöbelt worden, dass er mit dem Gedanken spielte, aufzuhören. Der damalige Lehrwart Helmut Willuhn habe anschließend auf demselben Platz gepfiffen und die Spieler, die Bahr zuvor das Schiri-Dasein schwer gemacht hatten, zusammengepfiffen. „Das hat mir damals geholfen“, sagt Bahr.

Auf unterer Ebene seien die Fans an der Seitenlinie direkter, unangenehmer. Jetzt blende er die Fans, wie zuletzt 3000 in Lübeck, aus. „Man wird erfahrener und abgezockter“, sagt Bahr. Je höher man pfeife, desto abgezockter sind auch die Spieler, die teilweise versuchen, einen Schiedsrichter in kleine Psychospielchen zu verwickeln und damit beeinflussen wollen.

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Aufrufe: 014.11.2019, 09:00 Uhr
TAGEBLATTAutor