Seit der Auslosung am 11. Juni durfte geträumt werden beim Bonner SC. Wie es wäre, Hannover 96 zu schlagen. Von links und rechts auf die Schulter geklopft zu werden. In der Sportschau und im „kicker“ unter „Pokalsensation“ aufzutauchen. Einmal die Fußballgesetze außer Kraft zu setzen und eine Mannschaft zu schlagen, die drei Ligen höher spielt. Jetzt ist der Traum vorbei, und am Ende wurde der BSC ziemlich barsch wachgerüttelt. Obwohl die Mannschaft mit 2:6 (1:1) verlor, hielt sie lange mit und kassierte erst in der Nachspielzeit die drei entscheidenden Gegentore.
Die Spieler schlichen anschließend Richtung Kabine. Niedergeschlagen und ausgepumpt. Trainer Daniel Zillken hingegen marschierte schon eine halbe Stunde später einigermaßen aufgeräumt in die Pressekonferenz. Arm in Arm mit seinem Kollegen André Breitenreiter, feixend, eher stolz als deprimiert. „Die Mannschaft hat einen großen Fight abgeliefert und den Zuschauern einiges geboten“, sagte Zillken. „Man sah halt den Unterschied, auch in der Robustheit. Ein Stoß hier, ein Stoß da – das kennen meine Jungs nicht.“
Immerhin durften die 9650 Zuschauer im ausverkauften Sportpark Nord kurz kosten, wie eine Pokalsensation schmeckt. Als Vojno Jesic bei einem der ersten gefährlichen Konter auf Lars Lokotsch durchsteckte und der 21-jährige Stürmer, der vergangene Saison noch beim Landesligisten TuS Oberpleis gespielt hatte, zum 1:0 (19.) einschloss, explodierte das Stadion. 40 Jahre Sehnsucht nach großem Fußball schienen in dieser Sekunde gestillt. Auch beschwingt vom vorangegangenen Frühschoppen, wähnten sich Tausende schon auf dem Weg zum Pokalfinale: „Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin.“
Doch das Stopp-Schild kam schnell. Noch ehe der Bundesligist an sich zweifeln oder sogar verzweifeln konnte, fiel der Ausgleich. BSC-Verteidiger Ugur Dündar hätte ihn verhindern können, doch am Rande des eigenen Fünfmeterraums ging er nicht energisch genug in den Zweikampf mit Felix Klaus – Pass nach innen, Schuss von Niclas Füllkrug ins leere Tor, 1:1 (34.). Die Dezibelstärke im Stadion sank augenblicklich von Überschalljet auf Segelflieger.
Dennoch, eine solche Fußball- Atmosphäre hatte Bonn lange nicht erlebt. Erstmals überhaupt hatten die BSC-Fans so etwas wie eine Choreographie auf die Beine gestellt. Als die Mannschaften einliefen, wurden auf der Haupttribüne Hunderte blau-rote Fähnchen geschwenkt, auf der Gegengeraden waren es blaue und rote Luftballons. Ein bisschen Südamerika im Rheinland.
Um im Bild zu bleiben: Der BSC praktizierte an diesem Tag die chilenische Art, Fußball zu spielen. Warf sich leidenschaftlich in jeden Ball, machte Kilometer, als gäbe es Geld dafür, ging Hannover auf die Nerven. Aber natürlich bestimmte der Favorit das Spiel.
Der Bundesligist machte nicht den Fehler, den Regionalligisten zu unterschätzen, wie das so viele Favoriten tun. Nach einer offenbar erholsamen Nacht im Kameha präsentierte sich das Team ohne auch nur einen Anflug von Schläfrigkeit. „Wir waren sehr fokussiert“, lobte 96-Sportdirektor Horst Heldt. „Allerdings hat man auch dem BSC angemerkt, dass er weiterkommen wollte.“
Hannover drückte eigentlich in jeder Phase des Spiels. Häufig lag ein Gegentor in der Luft, der Ball aber eben nicht im Netz. So brachte Jesic die Tribüne noch einmal in Wallung, als sein Distanzschuss nach einem Solo knapp übers Tor strich (54.). Mit dem 1:2 durch Martin Harnik (60.) war die Entscheidung jedoch vorbereitet, mit dem 1:3 durch Füllkrug (74.) war sie praktisch gefallen, obwohl Nico Perrey mit einem Tor des Monats noch einmal die Hoffnung auf ein sensationelles Comeback schürte. Eine Flanke des eingewechselten Aleksandar Pranjes lenkte der Verteidiger mit der Hacke artistisch zum 2:3 ins Netz (83.). An der Seitenlinie sprang André Breitenreiter von seinem Sitz auf. „In so einer Situation musst du wachsam sein“, sagte Hannovers Trainer nachher. „Auch ein Regionalligist ist ja heutzutage in einem top Fitnesszustand. Aber meine Jungs haben nicht die Nerven verloren.“
Sieben Minuten blieben noch. Plus Nachspielzeit. Spieler und Fans gaben noch einmal alles, aber der BSC kam nicht mehr gefährlich vor das Gästetor. Im Gegenteil, Hannover blieb cool und schraubte das Ergebnis in der Nachspielzeit durch Kenan Karaman, Sebastian Maier und Martin Harnik in unverhältnismäßige Höhe.
„Mindestens zwei Tore zu hoch“, meinte Zillken und traf damit die Stimmung im Stadion. Nach einer kurzen Phase der Verblüffung angesichts der drei späten Tore feierten die Zuschauer den BSC wie einen Sieger. Pokalhelden – trotz einer 2:6-Niederlage.
Bonner SC: Monath - Dündar, Spinrath, Perrey, Omerbasic (82. Sobiech) - Schumacher, Fillinger - Somuah (59. Hirsch), Jesic - Lokotsch (72. Pranjes), Kaiser.
Hannover 96: Tschauner - Korb, Salif Sane, Felipe, Ostrzolek (62. Karaman) - Anton, Schwegler (80. Bakalorz) - Klaus, Prib - Harnik, Füllkrug (76. Maier).
Schiedsrichter: Daniel Schlager (Rastatt). Tore: 1:0 Lokotsch (20.), 1:1 Füllkrug (34.), 1:2 Harnik (60.), 1:3 Füllkrug (74.), 2:3 Perrey (83.), 2:4 Karaman (90.), 2:5 Maier (90.+2), 2:6 Harnik (90.+3). Zuschauer: 9650 (ausverkauft).
Thomas Schmitz (BSC-Sportdirektor): Das war ein toller Tag und ein tolles Erlebnis für uns. Trotzdem sind wir wegen der Niederlage und des Spielverlaufs etwas enttäuscht. Denn da wäre mehr dringewesen. Aber unterm Strich geht der Sieg von Hannover in Ordnung.
Alexander Monath (BSC-Torhüter): Wir haben richtig gut angefangen. Nach dem Tor dachten wir wahrscheinlich, dass wir was zu verlieren haben. Deshalb haben wir ein bisschen Angst bekommen und waren nicht mehr so mutig. Am Ende sind wir dann total auseinandergefallen, das darf natürlich nicht passieren.
Guido Holt (BSC-Betreuer): Das ist ein Highlight. Ich bin jetzt seit 23 Jahren Betreuer der ersten Mannschaft, und das i-Tüpfelchen hat immer gefehlt. Und das ist für unseren kleinen Verein natürlich ein i-Tüpfelchen, wenn man einen Bundesligisten zu Gast hat und sich im Spiel gut verkauft.