2024-05-02T16:12:49.858Z

Interview

Landei vom Kehdinger Land in Millionen-Metropole

Die Fußball-Nationalspielerin und gebürtige Staderin Tabea Kemme hat den Sprung von Turbine Potsdam zu Arsenal London gewagt +++ Im Interview berichtet sie von ihren Erfahrungen und ihren Plänen für die Zukunft

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LONDON. Nach zwölf Jahren bei Turbine Potsdam wagte die gebürtige Staderin und Fußball-Nationalspielerin Tabea Kemme im Sommer den Schritt nach London, wo sie in der englischen Hauptstadt nun für die Arsenal Women aufläuft. Ein Treffen im Pub.

Nach ihrer schweren Knorpelverletzung im März durfte sie Anfang November im Spiel gegen Birmingham City erstmals Luft in der Women’s Super League schnuppern. Zwischen Training, Physiotherapie sowie dem Erkunden der neuen Heimat trafen wir uns mit der Fußballerin, die am Freitag Geburtstag feierte und durften feststellen, dass sich die 27-Jährige trotz Profi-Daseins nicht scheut, im Pub ein Bier zu bestellen. Im Interview spricht das selbsternannte "Landei" über die niedersächsische Heimat, die Verbundenheit nach Potsdam, den Stellenwert des Frauenfußballs in England und eine mögliche Rückkehr zur Nationalmannschaft.

Frau Kemme, haben Sie sich denn schon an den Linksverkehr gewöhnt?
Tabea Kemme: (lacht) Sehr schnell sogar, innerhalb einer Woche. Ich muss aber auch zugeben, dass sich das Auto, welches wir vom Verein bekommen haben, meldet, wenn man zu nah am Straßenrand oder am Mittelstreifen ist. Außerdem habe ich meinen Bulli aus Potsdam hergeholt und hab dadurch auch viel Übung gehabt. Ich bin mit dem Auto sicherer unterwegs als mit dem Fahrrad, dafür ist London nicht so gut geeignet.

Vervollständigen Sie bitte folgenden Satz: 2018 ist/war für mich...…
ein verletzungsanfälliges Jahr. Mein Knie hat mich wirklich viel Kraft und auch Nerven gekostet. Andererseits hatte ich mit dem Wechsel zu Arsenal auch ein großes Highlight in 2018. Ich bin dadurch aus meiner Komfort-Zone rausgekommen, kann jetzt auch mal einen Vergleich ziehen. Das war vorher nie möglich, weil ich ja nur in der Stätte Potsdam gewesen bin. Nichtsdestotrotz bin ich froh, wenn 2019 da ist und ich hinter diesem Jahr einen Haken machen kann.

Nach zwölf Jahren haben Sie Turbine Potsdam verlassen. Wie schwer fiel das?
Ich glaube, ohne meine Verletzung, wäre es mir schwerer gefallen. Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken und habe mir immer gesagt, dass ich mit dem Fußball noch mal rumkommen will. Mit der Nationalmannschaft habe ich international schon einiges erlebt, vereinstechnisch wollte ich aber das Ausland nutzen. Ein Wechsel innerhalb der Bundesliga hätte daher keinen Sinn für mich gemacht.

Das Fußball-Abc haben Sie bei der SG Freiburg-Oederquart von 2000 bis 2006 erlernt. Gibt es noch direkten Kontakt zum Verein?
Ich war tatsächlich vor vier Jahren mal bei der Weihnachtsfeier, was sehr amüsant war. Und in dem Dorf, in dem mein Elternhaus steht, gibt es ein kleines Mädchen namens Kari-Lene Stanke. Sie geht mit einem Kemme-Trikot von Turbine Potsdam zum Training und spielt jetzt tatsächlich auch bei meiner ersten Trainerin. Ich kenne die Kleine durch ihren Papa, der total fußballverrückt ist und sich sogar Spiele in England anschaut. Also ein wenig Kontakt, wenn auch meist über meine Eltern, besteht noch.

Haben Sie Verbindungen zu ihrer Geburtsstadt nach Stade?
Hm. Eigentlich wurde ich dort einfach nur geworfen (lacht). Und in der 10. Klasse habe ich dort noch mal ein Schülerpraktikum an der Polizeiwache gemacht. Aber ich glaube, 2020 soll dort eine Anlage zum Wavesurfen gebaut werden. Das könnte dann ein Grund sein, öfter mal in Stade zu sein.

Was bedeutet Heimat für Sie? Und wie verorten Sie dieses Gefühl?
Also, wenn mich welche fragen, wohin ich fliege, dann sage ich, dass in Potsdam meine Friendzone ist, wo ich viele Freunde und Wegbegleiter habe und wo ich nach wie vor sehr gerne bin. Da, wo mein Elternhaus steht, ist halt die Heimat meiner Eltern, das splitte ich schon. Die Flugverbindungen von London nach Berlin sind im Gegensatz zu Hamburg auch unschlagbar, weshalb es mich an einem freien Wochenende eher nach Potsdam zieht.

Besitzen Sie typisch norddeutsche Charaktereigenschaften?
Puh, gute Frage. Also Plattdeutsch kann ich nicht. Einerseits bin ich direkt, würde mich aber auch als bodenständig einschätzen. Ich habe nie vergessen, wo ich herkomme, was mir auch sehr wichtig ist.

Hat Ihnen dies in gewissen Situationen geholfen?
Ja, mein ganzes Leben sogar. Es fing schon mit 14 Jahren an, als ich von Zuhause weg bin und es innerhalb von zwei Jahren geschafft habe, bei den Frauen zu spielen. Mir war dabei immer bewusst, dass es etwas Besonderes ist und es nicht jedem so geschieht.

Das Weihnachtsfest naht. Wo verbringt Tabea Kemme die Feiertage?
Da bin ich dann in der Heimat bei meinen Eltern oder bei meiner Schwester, die laut Geburtstermin am 22. Dezember einen Sohn bekommt, in Osnabrück. Ich fliege erst mal nach Hamburg und dann werde ich sehen, in welche Richtung es geht.

Daraus lässt sich bereits schließen, dass es beim Frauenfußball keinen Boxing Day wie bei den Männern gibt, wo auch zwischen den Feiertagen gespielt wird?
Nein, den gibt es nicht. Wir haben eine Woche trainingsfrei erhalten, dafür hat unser Coach mit den Athletiktrainern gekämpft.

Den Jahreswechsel erleben Sie in...…
Potsdam! Wir trainieren am 30. Dezember, ich fliege aber am gleichen Tag noch nach Berlin. Am Neujahrstag geht es aber auch gleich wieder zurück nach London, die nächste Einheit steht dann auf dem Programm, weil wir am 6. Januar schon wieder spielen.

Die Arsenal Women spielen ihre beste Saison in der Vereinsgeschichte. Was macht Sie in dieser Saison so stark?
Es ist einfach eine sehr durchdachte Sache vom Verein, das gesamte Trainerteam schöpft die vorhandenen Möglichkeiten voll aus. Unser Trainer Joe Montemurro beeindruckt mich mit seiner Art und Weise wirklich sehr, einen Haufen von 18 Frauen so problemlos zu händeln ist wirklich tough. Auf dem Platz ist er direkt, weiß genau, was er will und dementsprechend ist auch sein Umgang. Abseits davon könnte man mit ihm auch mal am Abend bei Pasta und Rotwein über das Leben philosophieren. Diese Art von Trainer hätte es wegen der Mentalität in Deutschland sehr schwer.

Englands Frauenfußball kommt derzeit so richtig in Fahrt. Wie Frauenfußball-verrückt sind denn die Engländer?
Die Fans sind ein bisschen sinnbildlich dafür, wie es in Potsdam war. Wir haben mit vielen Familien ein klassisches Publikum für den Frauenfußball, vereinzelt aber auch die vermeintlichen Hooligans, die dann 90 Minuten durchsingen. Es kommen zwar etwas weniger Zuschauer als in Potsdam, wirkt aber mehr, weil das Stadion hier viel kleiner ist als das Karl-Liebknecht-Stadion.

Konnten Sie bereits weitere Unterschiede zwischen England und Deutschland ausmachen?
Englischer Rasen, viel mehr muss ich gar nicht sagen. Nein, im Ernst, da fallen mir sofort die Trainingsbedingungen ein, die am Luftschiffhafen in Potsdam katastrophal sind. Wie Matthias Rudolph da in Potsdam hinterher ist, dass sich daran was ändert, ist Wahnsinn. Hier werden jährlich fünf Millionen Pfund nur in die Plätze investiert, weil der Verein sagt, dass das unser Hauptarbeitsmittel ist. Grundsätzlich ist auch der Support bei Männerspielen anders, weil in dieser Millionen-Metropole so viele Kulturen aufeinandertreffen, die den Fußball auf ihre eigene Art und Weise zelebrieren. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal zum Fan werde und es aufregend finde, eine Stunde vor Anpfiff diesen ganzen Trubel im Pub mitzuerleben. Aus meiner beruflichen Perspektive als Polizistin wurde ich hier auch positiv überrascht. Beim Premier-League-Spiel zwischen Arsenal und Liverpool habe ich lediglich zwei Polizeibeamte an der Haltestelle gesehen und da lief nichts schief. Das kann man sich in Deutschland kaum vorstellen, bei einem Viertligaspiel zwischen Babelsberg 03 gegen Cottbus (Anm. d. Red.: vergangene Saison) ist ja die ganze Stadt dicht.

Mit Pauline Bremer, Julia Simic und Ann-Kathrin Berger sind noch mehr deutsche Spielerinnen in England aktiv. Warum ist die Women‘s Super League so attraktiv?
In Deutschland gibt es Wolfsburg, Bayern, Potsdam und Freiburg hat noch viele Talente, das war es aber auch. Hier in England gibt es Arsenal, Chelsea, Manchester City, Liverpool. Hier haben wir fast jede Woche ein Derby, die Wege sind deutlich kürzer. Die Europameisterschaft 2021 in England wird dem Frauenfußball auch noch mal einen Schub geben, den sicher auch deutsche Spielerinnen wahrnehmen werden. Wenn ich mit Turbine nach Sand, Frankfurt oder Bremen gefahren bin, dann kannte ich jede Autobahnraststätte. Es war immer der gleiche Trott, ich war nach 12 Jahren auch einfach betriebsmüde.

Wie kann man sich den Spielstil in der Liga vorstellen und sagt er Ihnen zu?
Ja, der gefällt mir sehr. Hier wird viel offensiver gespielt, weshalb ich die englische Liga auch so interessant finde. Vom Taktischen her ist die Bundesliga weiter entwickelt, dort wird mehr umgesetzt. Hier fallen mehr Tore, den Zuschauern wird ein Spektakel geboten, niemandem wird langweilig und du wirst richtig gut unterhalten.

Der "Spiegel" hatte unter Berufung auf die Enthüllungsplattform "Football Leaks" berichtet, dass den Spielerinnen in der WSL gekündigt werden könne, wenn sie länger als drei Monate verletzt und krank seien. Stimmt das?
Tatsächlich gibt es im Vertrag solch eine Klausel, wo ich nach meiner Verletzung noch mal Fragen an den Verein hatte. Wir Spielerinnen sind Mitglied bei der PFA, was wie eine Gewerkschaft für Fußballer ist. Diese kümmert sich in solchen Fällen darum, dass man sich keine Sorgen machen muss. Man hat aber noch mehr Vorteile, kann unter anderem auch an Weiterbildungen teilnehmen und Trainerlizenzen erwerben.

Ihre Vita liest sich mit vier Deutschen Meisterschaften, einem Champions-League-Titel, der U20-Weltmeisterschaft und Olympia-Gold sehr beeindruckend. Wann folgt denn der nächste Titel in ihrer Karriere?
Im idealen Fall in einem halben Jahr. Wir haben uns in der Liga eine tolle Ausgangssituation geschaffen, mindestens der zweite Platz, der für die Teilnahme an der Champions League berechtigt, sollte es aber wirklich schon sein. Wir wollen weiter performen und die Gejagten bleiben. Ich hoffe, dass ich dann auch meinen Teil dazu beitragen kann.

Einen Kurzeinsatz haben Sie im Arsenal-Trikot bislang zu verzeichnen, jetzt pausieren Sie wieder. Kam das Comeback zu früh?
Mein Knie hat noch Knochenödeme, die ich nun ausheilen lassen muss. Ich bekomme am 28. Dezember noch mal ein MRT-Bild, in der Hoffnung, dass dann wirklich alles gut ist und ich nach einem sechswöchigen Aufbau im Februar wieder angreifen kann. Diese Verletzung wird mich aber ohnehin den Rest meiner Karriere verfolgen, das ist eine langwierige Sache, was für mich und meine Vollgas-Spielweise natürlich schwierig ist.

Seit dem 1. Dezember ist Martina Voss-Tecklenburg die neue Bundestrainerin. Gab es schon einen direkten Kontakt?
Noch nicht, nein. Tatsächlich war Sie aber mal bei einem Turbine-Spiel, um sich die Schweizer Spielerinnen anzuschauen. Ich halte viel von der neuen Bundestrainerin und sehe das sehr optimistisch. Sie hat mit der Schweiz in den letzten Jahren viel erreicht.

Also warten Sie auf einen Anruf?
Ich denke, ich werde zuerst anrufen, um ihr meinen Status mitzuteilen. Das ist aber noch weit weg für mich. Meine Priorität liegt darin, schmerzfrei mit dem Ball von Linie zu Linie zu rennen.

Das Kapitel Nationalmannschaft ist aber noch nicht abgeschlossen?
Nein, auf keinen Fall. Da lasse ich mir alle Optionen offen.

Ist die Weltmeisterschaft im kommenden Jahr ein Ziel?
Als ich im Oktober dachte, dass ich meine Verletzung komplett überstanden habe, war es schon ein kleines Ziel. Das habe ich jetzt aber hinten angestellt. Ich will entscheiden, was ich mache und nicht mein Knie.

Was trauen Sie der DFB-Elf bei dem Turnier in Frankreich zu?
Die Ereignisse bei der EM schmerzen noch immer. Ich bin mir sicher, dass es ein ausgeglichenes Turnier wird. Während der deutsche Fußball etwas stagniert hat, rückten andere Nationen nach. Die Qualifikation war souverän, aber bei der Männer-WM in Russland hat man anhand des deutschen Teams gesehen, dass dies dann nichts Wert ist.

China, Spanien und Südafrika sind die Gegner in der Vorrunde. Losglück?
Mit China und vor allem Spanien haben wir spielstarke Nationen zugelost bekommen. Südafrika schätze ich als Kämpfernation auf dem Fußballplatz ein. Es ist eine machbare Gruppe, wenn wir unsere Spielstärke durchbringen und den Fokus auf uns belassen.

Abschließende Frage: Wo sehen Sie ihre sportliche und private Zukunft?
Die sportliche Zukunft in London lasse ich mir offen, privat kann ich mir das aber nicht vorstellen. Ich bin ein Landei, ich bin dort aufgewachsen, wo mehr Tiere leben als Menschen. Der Konsum, diese Menschen, der Verkehr - das haut mich hier in London jedes Mal wieder um. Mittlerweile genieße ich es sogar, in Berlin zu sein. Aufgrund meiner beruflichen Ausbildung zur Polizistin sehe ich mich aber dann wieder in Potsdam. Auf einen Zeitpunkt will ich mich nicht festlegen, das hängt auch stark von meinem sportlichen Werdegang ab.

Aufrufe: 014.12.2018, 15:00 Uhr
Tageblatt / Marius BöttcherAutor