2024-05-17T14:19:24.476Z

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Matthias Gerhardt blieb nach einem Zusammenstoß auf dem Fußballplatz  bewusstlos liegen. Seine Mitspieler retteten ihm das Leben.
Matthias Gerhardt blieb nach einem Zusammenstoß auf dem Fußballplatz bewusstlos liegen. Seine Mitspieler retteten ihm das Leben.

Zwei Engel für Matthias

Das Leben ist ein Wimpernschlag: Wie Raphael Philipp und Ercan Ürün den Bad Kreuznacher Fußballspieler Matthias Gerhardt retten

Nach einem Zusammenprall mit dem gegnerischen Torwart bleibt der Bad Kreuznacher Fußballspieler Matthias Gerhardt bewusstlos liegen. Er verschluckt die Zunge. „Gegenspieler“ Raphael Philipp und Betreuer Ercan Ürün retten ihm das Leben. Im Januar will Matthias Gerhardt wieder bei der SG Eintracht Bad Kreuznach trainieren.

Der unverwechselbare Duft frisch gemähten Grases. Das Gefühl, die 30 Millimeter hohen Halme unter den Sohlen zu spüren. Matthias Gerhardt genießt den Moment, als er zum ersten Mal seit dem Tag, den er vielleicht mal als seinen zweiten Geburtstag bezeichnen wird, einen Fußballplatz betritt. Er schießt keinen Ball – daran ist noch nicht zu denken. Er schiebt einen Kinderwagen übers Grün. Schaut er in die Schale, strahlt ihn der kleine Oskar mit seinen Baby-Kulleraugen an. Und Matthias Gerhardt würde den Moment gerne einfrieren. Dieser Augenblick macht sein Leben lebenswert.
An den anderen Moment, der sein Leben verändert und dank seiner Schutzengel glücklicherweise nicht beendet hat, hat der Defensivspieler der SG Eintracht Bad Kreuznach keine Erinnerung. An den Zusammenprall mit dem Torhüter des Landesliga-Konkurrenten SV Nanzdietschweiler. Wie sie beide aus unterschiedlichen Richtungen angerannt kommen und nur den Ball sehen – nur nicht den auf der gleichen Spur entgegenkommenden „Geisterläufer“. Matthias Gerhardt erinnert sich nicht, wie sein Kopf gegen die Hüfte des jungen Keepers kracht. Wie er das Bewusstsein verliert, auf dem Kunstrasen aufkommt, regungslos liegen bleibt und seine Zunge verschluckt. Bildfetzen geistern unsortiert durch seinen Kopf. Es sind nicht seine Eindrücke, sondern die, die er aus den unzähligen Erzählungen mit Augenzeugen zusammensetzt wie ein Puzzle. Und wie der 34-Jährige auch die Teile aneinanderreiht: Das Gesamtbild bleibt ein schreckliches.

„Das waren 60 Sekunden zwischen Leben und Tod“

Drei Nächte lang machte Ercan Ürün nach dem Vorfall kein Auge zu. Sein Kaffeekonsum stieg, seine Augenränder waren so groß wie Lebkuchen. Millionen Gedanken geisterten durch seinen Kopf, vor allem dieser eine brachte ihn um den Schlaf. Und er beschäftigt den Betreuer der SG Eintracht Bad Kreuznach, der zum Lebensretter wurde, heute noch. „Es kann so schnell und so einfach gehen. Ein falscher Schritt, eine falsche Entscheidung, Pech und Zufall zusammen und – zack – liegst du auf dem Boden und kämpfst um dein Leben.“
Ercan Ürün muss erst mal durchatmen, schlucken, kleine Tropfen bilden sich in seinen Augenwinkeln. Das Leben ist ein Wimpernschlag.
Vor dem 29. August 2015 hat er sich auf dem Weg zum Fußballplatz mit solchen existenziellen Fragen nicht beschäftigt. Fußball war einfach nur Fußball. 22 Spieler, ein Ball, Anpfiff, das Runde muss ins Eckige. „In 90 Minuten kann alles passieren.“ Sportlich betrachtet. Selbst der größte anzunehmende Außenseiter hat gegen den größten anzunehmenden Favoriten irgendwie eine Chance. In der Theorie. Dieser „größte anzunehmende Unfall“ (Ürün) taucht in keinem Lehrbuch auf. „Das waren 60 Sekunden zwischen Leben und Tod.“
Als er Matthias Gerhardt am Boden liegen sieht, rennt Ercan Ürün los. So schnell, als würde er um sein eigenes Leben rennen. Vorbei an erschrockenen, geschockten, erstarrten Spielern. Ürün versucht, den verkrampften Kiefer zu öffnen. Er drückt den Daumen in die Backen zwischen Ober- und Unterkiefer. Dann hält er den Mund auf – für Raphael Philipp. Der Stürmer des SV Nanzdietschweiler greift nach der Zunge, zieht sie heraus und hält sie eine Viertelstunde, die sich wie eine Ewigkeit anfühlt, fest. Zwei Engel für Gerhardt.

Wer reagiert in einer solchen Notfallsituation richtig?

Der Tod auf dem Fußballplatz ist ein Tragödie, allerdings kein neues Phänomen. 2003 kollabierte der Kameruner Marc-Vivien Foé während des Confederations-Cup-Halbfinales in Lyon. Er sank zu Boden, verschluckte ebenfalls die Zunge, über eine Stunde kämpften die Ärzte um sein Leben, Foés Herz hörte auf zu schlagen.
„Solche Notfallsituationen können im Alltag wie im Sport jederzeit auftreten“, sagt der Bad Kreuznacher Sportmediziner Dr. Fred Weber. „Die Reaktion auf einen solchen Notfall hängt entscheidend davon ab, ob Menschen da sind, die solche Situationen beherrschen können.“ Das sei keine Selbstverständlichkeit.
1992 bei der Europameisterschaft in Schweden rettete Adolf Katzenmeier, über vier Jahrzehnte lang der Masseur der deutschen Nationalmannschaft, Guido Buchwald. Der Weltmeister verschluckte seine Zunge, er röchelte, bekam keine Luft mehr. Wäre die Zunge tiefer gerutscht, hätte Buchwald möglicherweise nur noch ein Luftröhrenschnitt geholfen. Katzenmeier reagierte richtig. Eine Narbe an seinem Zeigefinger erinnert Katzenmeier an seine Heldentat. Buchwald hatte ihm in den Finger gebissen.
Die Szene oder eine ähnliche aus der Bundesliga kommt Raphael Philipp auf dem Sportplatz in Nanzdietschweiler (Pfalz) sofort in den Sinn. Der Stürmer handelt sofort. Obwohl der 30-Jährige einer der Spieler ist, der am weitesten vom Geschehen entfernt steht, merkt er an den hektischen Reaktionen aller Spieler, „dass etwas Furchtbares passiert sein muss“.

Je schneller man hilft, umso größer die Überlebenschance

Als Stürmer bekommt man sein ganzes Leben lang von seinen Trainern eingebläut, dass Reaktionsschnelligkeit das A und O ist. Schneller schalten, schneller rennen, richtig reagieren. Und Tore schießen. Dass diese Reaktionsschnelligkeit mal ein Menschenleben retten würde, hätte Raphael Philipp nicht für möglich gehalten.
Jede Sekunde zählt. „Je schneller man hilft, umso größer ist die Chance, den Menschen zu retten“, sagt Dr. Fred Weber. „Wenn ein Patient nicht ansprechbar ist, nicht atmet, ist er in diesem Moment tot. Dann muss sofort ein Minikreislauf beginnen: Herzmassage, Beatmung, abwechselnd. Wenn das Gehirn länger als eine Minute kein Blut mehr bekommt, hat es dauerhafte Schäden.“
Matthias Gerhardt erlangt auf dem Sportplatz in Nanzdietschweiler wieder das Bewusstsein. Als er das nächste Mal „bewusst aufwacht“, liegt er in einem Krankenzimmer der Universitätsklinik im saarländischen Homburg. Der Zusammenprall hat, das finden die Ärzte später heraus, einen kleinen Schlaganfall ausgelöst. Gerhardt hat Probleme mit dem Gleichgewicht, kann nicht ohne Hilfe gehen. Er sieht Doppelbilder. Die Ärzte nennen es Schwankschwindel.
Nach acht Tagen in Homburg wird Gerhardt in die Mainzer Uniklinik verlegt. Ein Stück näher an der Heimat – doch noch nicht ganz zurück im Leben. „Klar“, sagt Gerhardt, „habe ich Glück gehabt. Aber mir ist auch klar, dass ich sehr viel Pech hatte, in eine so unglückliche Sitution geraten zu sein.“ Es geht ihm wieder gut, der Alltag hat ihn wieder. Nach der fünfwöchigen Reha in Mainz und der stufenweisen Wiedereingliederung unterrichtet der 34 Jahre alte Sport- und Erdkundelehrer an der Ingelheimer Albert-Schweitzer-Schule. Mit einem Kumpel hat er sogar schon mal „ein bisschen gekickt“. Und im neuen Jahr möchte er wieder im Fußballtraining der SG Eintracht vorbeischauen. Austesten, wie weit er gehen kann, in Zweikämpfen oder Kopfballduellen. Ob er noch mal auf diesem Niveau spielen wird, „und ob der Kopf das alles mitmacht“. Natürlich, sagt Gerhardt, habe ihn der Unfall verändert. Gedanken und Prioritäten haben sich verschoben. Kleinigkeiten, über die er sich früher aufgeregt hätte, schmunzelt er nun weg.

Ein Handyfoto von Oskar für den Lebensretter

Zwei Tage nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus fährt Matthias Gerhardt direkt wieder in die Mainzer Uniklinik. Zwei Wochen nach seinem „zweiten Geburtstag“ kommt sein Sohn Oskar zur Welt. Und dass er diesen Moment miterleben darf, dafür würde er am liebsten die ganze Welt umarmen. Eines der ersten Handyfotos von Oskar schickt Matthias Gerhardt an Raphael Philipp. Der Lebensretter aus der Pfalz sitzt nach „aufwühlenden Tagen“, in denen er ob seiner Heldentat auf der Straße von wildfremden Menschen angesprochen, auf Facebook als „Schutzengel aus der Pfalz“ gefeiert und vom Südwestdeutschen Fußballverband geehrt wird, gerade mit seinen beiden Söhnen auf dem Sofa. Als er auf seinem Mobiltelefon die beiden Gerhardts sieht, drückt er seine Buben an sich und denkt: „Das ist das schönste Geschenk.“ Denn das Leben ist zum Leben da.

Aufrufe: 024.12.2015, 12:00 Uhr
Henning KunzAutor