2024-05-02T16:12:49.858Z

Relegation
„Muss man abhaken können:“ Raeders Fehlgriff kostete Bayern den Aufstieg. FOTOS: HÜBNER
„Muss man abhaken können:“ Raeders Fehlgriff kostete Bayern den Aufstieg. FOTOS: HÜBNER

Haching vor Aufstieg - Wiesinger: "Eine Schweineregelung"

Das Hinspiel-3:0 im Rücken: Relegations-Rückspiel zur 3. Liga in Elversberg

Wer sich über den Modus der Aufstiegsrelegation zur 3. Liga aufregt, landet irgendwann immer bei Lukas Raeder. 20 war er, als es um ihn plötzlich ganz, ganz einsam wurde.

Er stand in seinem Tor, trank eine Flasche aus, dann die nächste. Er hatte Zeit, viel Zeit. Weil er erst einmal seine Gedanken ordnen, sich Antworten auf die Fragen überlegen musste, die nun auf ihn einprasseln würden. Als er sich ihnen stellte, sagte er: „Ich habe den Ball nicht festgehalten.“ Viele fanden das zu lapidar, andere sogar frech, zumindest der Tragweite des Geschehens nicht angemessen. Raeders Fehlgriff in allerletzter Sekunde nämlich hatte fatale Folgen, die Bayern-Amateure sind nicht aufgestiegen, die Mühe einer langen Saison war plötzlich vergeblich, die Meisterschaft ein Titel ohne Wert.

Wiesinger: "Kotzt mich an"

Das war im Juni 2014. Drei Jahre später sitzt Michael Wiesinger im düsteren Presseraum der SpVgg Unterhaching. Er kennt das Gefühl, wie es ist, so knapp zu scheitern. Im vergangenen Jahr hat er mit dem SV Elversberg nach einem 1:1 im Hinspiel 0:1 in Zwickau verloren, er erinnert sich an die Wut seiner Spieler, die nun ohne Lohn dastanden, an seine eigene Machtlosigkeit. Aufstehen, sich sammeln und dann neu angreifen, ja, das sagt sich so leicht. Was aber blieb ihm und seinen Jungs anderes übrig? Nun sind sie sogar Erster geworden in der Regionalliga Südwest, nach dem 0:3 im Hinspiel bei Bayern-Meister Unterhaching aber droht ein Déjà-vu.

Wiesinger spricht von einer „Schweineregelung“, dass eines dieser beiden Teams nach einer derart grandiosen Saison auf der Strecke bleibt, „kotzt mich jetzt schon an“. Und der frühere Bayern- und Löwen-Profi muss befürchten, dass es wieder seine Mannschaft sein wird.

Kein anderer Verein hat so oft mitgespielt in dieser Relegation, die seit der Umstellung von drei auf fünf deutsche Regionalligen im Jahr 2012 nötig ist, um drei Glückliche zu ermitteln, die in die 3. Liga dürfen. Beim ersten Mal, 2013, gehörte der Klub aus dem Saarland noch dazu, mit unfassbar viel Dusel hatte man in der Münchner Allianz-Arena nach einem 3:2 im Hinspiel ein 1:1 gerettet gegen die U21 des TSV 1860, die mit ihrem Schicksal haderte, zu Recht: „Wir könnten den Nichtaufstieg akzeptieren, wenn wir gegen eine bessere Mannschaft verloren hätten“, sagte damals Stefan Wannenwetsch. „das war aber nicht so.“


Die Relegation eine Lotterie?

Es ist ein Glücksspiel. Das schon mit der Auslosung beginnt. 2013 bekommen die Sportfreunde Lotte, die im Jahr zuvor den damals noch möglichen Direktaufstieg am allerletzten Spieltag unter etwas dubiosen Umständen verpasst hatten, als Meister der Regionalliga West Rasenballsport Leipzig zugelost, der sich im Osten mit 14 Punkten Vorsprung vor den Traditionsklubs Jena und Zwickau für die Relegation qualifiziert hatte. Leipzig setzt sich in einer dramatischen Verlängerung durch und Trainer Alexander Zorniger spricht hinterher Lottes Fans aus der Seele, als er feststellt: „Das war zutiefst gegen den Sport. Es tut mir von ganzem Herzen leid für die Sportfreunde, die haben ein Jahr gearbeitet wie bekloppt und steigen nun trotzdem nicht auf.“

Lotte aber wurde zum Vorbild für die, die ebenso unglücklich scheitern. Lotte gab nicht auf, versuchte es weiter. Und wurde 2016 belohnt, als man sich gegen Waldhof Mannheim durchsetzen und endlich, endlich den Lohn aller Mühen ernten konnte, während Mannheims Hanno Balitsch vehement eine Änderung forderte: „Es gibt wohl in ganz Europa keinen schwierigeren Aufstieg.“ Als nun Claus Schromm, der Hachinger Trainer, vor dem Duell mit Elversberg gefragt wurde, was ein ja durchaus mögliches Scheitern nach einer so grandiosen Saison für ihn und seine Mannschaft bedeuten würde, erinnerte auch er an die Sportfreunde: „Dann machen wir es wie Lotte und versuchen es einfach weiter.“

Auch Wiesinger hat es weiter versucht, sollte es nun zum zweiten Mal in Folge nicht klappen, wird er sich vorkommen müssen wie Sisyphos. Den kennt man als äußerst bedauernswerten Menschen aus der griechischen Mythologie, die Götter hatten ihn dazu verdammt, ständig einen schweren Felsbrocken einen Berg hinauf zu wuchten. Und immer, wenn er fast oben war, rollte er wieder herunter und Sisyphos musste von vorne beginnen. Ja, so muss es sich anfühlen, wenn einem nach einer langen Saison so kurz vor dem Gipfel, vor dem großen Ziel, der Erfolg aus der Hand gleitet. Manchmal reicht dafür ein umstrittener Schiedsrichterpfiff, ein Fehlgriff des Torhüters wie damals bei Raeder, manchmal fehlen Millimeter, wenn der Ball vom Innenpfosten zurück ins Feld springt. Es ist und bleibt ein Glücksspiel. Oder, um es mit Wiesinger auszudrücken, eine „Schweineregelung“.

Elversbergs Aussichten sind nach dem Hinspiel richtig mies, noch nie in der noch kurzen Historie dieser Drittliga-Relegation hat ein Verein ein 3:0 vergeigt, noch nie nämlich ist einer mit einem derart großen Vorsprung ins Rückspiel gegangen wie nun die SpVgg Unterhaching. Leipzig aber ist 2013 mit einem 2:0 nach Lotte gereist. Und wurde noch in eine quälende Verlängerung gezwungen. Die Würzburger Kickers schienen vor zwei Jahren nach einem 1:0-Auswärtssieg in Saarbrücken schon so gut wie am Ziel, mussten aber trotzdem am heimischen Dallenberg ins Elfmeterschießen, ein Roulettespiel, in dem dann der erfahrene Torhüter Robert Wulnikowski zum Helden wurde und Würzburgs Durchmarsch in Liga zwei erst möglich machte.

Die Rolle des Versagers

Für Lukas Raeder hatte die Relegation eine deutlich unangenehmere Rolle parat, die des Versagers oder, noch brutaler, des Deppen. Der Fehlgriff in der 94. Minute im Rückspiel gegen Fortuna Köln war der Moment, der dem früheren Schalker, der mit so großen Hoffnungen nach München gekommen war, eine Zukunft beim FC Bayern verbaute. Und dem FC Bayern den für die Nachwuchsarbeit dringend notwendigen Aufstieg. Bei den Fans war Raeder unten durch, vielleicht hätte er heulen müssen, sich auf dem Boden werfen, sich unter Tränen entschuldigen. „Ich habe das ja nicht mit Absicht gemacht“, sagt er Jahre später und begründet sein gefasstes Auftreten mit der besonderen Psyche des Torhüters: „Da lernt man von klein auf, mit Fehlern umzugehen.“

Nicht alle aber haben derart gravierende Folgen wie Fehler in der Drittliga-Relegation. Nirgends ist der Fußball so brutal, nirgends die Spielklassen so undurchlässig wie zwischen der vierten und dritten Liga. Der FC Bayern leidet noch immer an Raeders fatalem Fehlgriff.

Die Amateurfußballseite erscheint jeden Mittwoch. Autor ist Reinhard Hübner, erreichbar unter komsport@t-online.de

Aufrufe: 031.5.2017, 09:29 Uhr
Münchner Merkur: Reinhard HübnerAutor