2024-05-08T14:46:11.570Z

Spielbericht
Die Mannschaft der Stuttgarter Kickers feiert nach dem 0:0 in Reutlingen den Aufstieg in die Regionalliga.
Die Mannschaft der Stuttgarter Kickers feiert nach dem 0:0 in Reutlingen den Aufstieg in die Regionalliga. – Foto: Imago / Julia Rahn

Schmerz als Antrieb: Stuttgarter Kickers befreien sich aus der Oberliga-Hölle

Stuttgarter Kickers: Rückkehr in die Regionalliga nach fünf Jahren

Einst ärgerten die den FC Bayern - ab 2018 ging es dann gegen Clubs wie Dorkmerklingen. Künftig sind die Blauen aus Stuttgart wenigstens wieder viertklassig.

Plötzlich floss doch Alkohol beim Hochsicherheits-Event an der Reutlinger Kreuzeiche. Ein gut vorbereiteter Tabubruch. Zwei eingeschmuggelte Kästen Schwabenbräu wurden aufs Spielfeld geschleppt – in die Kurve der Kickers-Fans, die bleifrei ein ödes 0:0 ertragen hatten, dafür aber feuchtfröhlich entschädigt wurden. Bierflaschen kreisten, als sich das Stadion geleert hatte, die Mannschaft kletterte auf den Zaun und auch Mustafa Ünal, der noch A-Jugend-Trainer war, als Stuttgarts „Blaue“ in der Hölle gelandet waren. Seit Samstag sind fünf Jahre Fünftklassigkeit Geschichte. „Nie mehr Oberliga!“, sangen die 3000 nach Reutlingen mitgereisten Fans – der Beginn einer langen Partynacht.

Fredi Bobic zählt zu den ersten Gratulanten

Die endete dort, wo seit 1905 das Herz der Blauen aus Stuttgart schlägt: unter dem Fernsehturm. Neben einem kleinen Stadion, das große Fußballer hervorgebracht hat: die späteren Weltmeister Jürgen Klinsmann und Guido Buchwald, auch Fredi Bobic, der zu den ersten Gratulanten gehörte ( „Es ist wirklich Zeit geworden!“). Einst schlugen die Kickers den FC Bayern in der Bundesliga (2:0/1989, 4:1/1991) – dann stürzten sie ab, immer tiefer. Jetzt, nach fünf erniedrigenden Jahren in der schwäbischen Provinz, ist der erste Schritt zurück auf die größere Fußball-Landkarte geschafft: Aufstieg in die Regionalliga – zudem winkt der erneute Einzug in den DFB-Pokal.

Bierdusche und Küsschen für Aufstiegstrainer Ünal

Ein überfälliger Schritt, den der Vereinspräsident demütig einordnete. Man habe „nicht die Champions League gewonnen“, begründete Rainer Lorz seine anfangs verhaltene Freude. Auch der Auftritt in Reutlingen war das Gegenteil von Champions League. Ab Mitte der ersten Halbzeit wussten die Kickers, dass sie durch sind. Großaspach, der einzige Verfolger, hatte sein 90 Minuten vorher angepfiffenes Spiel verloren (1:3 gegen Villingen). „Jeder bekam es mit“, stellte sich Ünal vor seine diesmal enttäuschende Mannschaft: „Danach war schon ein Spannungsabfall festzustellen.“

Andere Mannschaften zerbrechen an solchen Rückschlägen – wir sind gestärkt daraus hervorgegangen.

Kickers-Trainer Mustafa Ünal über den Schmerz des Nichtaufstiegs 2022.

Trainer Mustafa Ünal  bei der Aufstiegsparty der Stuttgarter Kickers.
Trainer Mustafa Ünal bei der Aufstiegsparty der Stuttgarter Kickers. – Foto: Imago / Julia Rahn

Oder haben sich die Spieler nur geschont? Die Körperspannung des Teams reichte jedenfalls, um den Trainer kollektiv zu packen, um ihm die seltene Mischung aus Bierdusche von rechts und Wangenküsschen von links zu verpassen. Im Interview mit dem SWR hatte Ünal gerade erklärt, wo er die Initialzündung für die Wiederauferstehung verortet – im Schmerz, ein Jahr vorher in allerletzter Sekunde gescheitert zu sein. Für dieses „Drama“, wie es Ünal nennt, steht der Name Dorfmerklingen – dort entglitt in der Nachspielzeit der Saison 2021/22 der Direktaufstieg. Negativ getoppt durch ein ebenso unglückliches Scheitern in der Relegation. „Andere Mannschaften zerbrechen an solchen Rückschlägen – wir sind gestärkt daraus hervorgegangen“, sagt der Coach. „Den Schmerz müssen wir mittragen“, trichterte er dem Team beim ersten Wiedersehen im Training ein: „Er hat uns gierig gemacht.“ Und er sei erst jetzt weg: „Jetzt, wo wir den Aufstieg geschafft haben.“

Sogar Ex-Boss Marc-Nicolai Pfeifer, aktuell bei 1860, schaut bei der Party vorbei

Dieser Aufstieg – ist er der Anfang von vielen weiteren, wie nicht wenige Edelblaue träumen, die sich abends vor der Bühne hinter dem Kickers-Stadion versammelten (unter ihnen 1860-Finanzchef Marc-Nicolai Pfeifer)? Ünal glaubt, dass der Kern seines Teams gefestigt ist, dass drei Zugänge reichen könnten, um das Abenteuer Regionalliga zu bestehen. Am Samstag gab er erst mal ein anderes Motto vor: Party pur! „Wir treffen uns erst wieder, wenn alle genug gefeiert haben.“

Die nächsten Ziele: 100 Tore vollmachen und erneut in den DFB-Pokal einziehen

Die nächsten Ziele stellen sich von alleine. Das 100. Tor, das in Reutlingen ausblieb, soll am Samstag Großaspach eingeschenkt werden. Über Finalgegner Balingen wollen die Kickers auch erneut in den DFB-Pokal einziehen. Erstliga-Absteiger Fürth hatten sie heuer eliminiert, sich gegen Europa-League-Sieger Frankfurt achtbar aus der Affäre gezogen (0:2). Gegner, an die sich die Blauen gerne wieder gewöhnen würden.

Dorfmerklingen bleibt trotzdem im kollektiven Gedächtnis – als Station, an der die Kickers so viel Wut anstauten, um die Oberliga-Hölle endlich und endgültig zu verlassen. Uli Kellner

Aufrufe: 08.5.2023, 10:00 Uhr
Uli KellnerAutor