2024-04-25T14:35:39.956Z

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Sein Transfer sorgt im Sommer 2022 für große Schlagzeilen: Der neun Jahre alte Alex Hentcho (rechts) wechselt im Paket mit seinen beiden Brüdern von Mainz 05 zum FC Bayern München.
Sein Transfer sorgt im Sommer 2022 für große Schlagzeilen: Der neun Jahre alte Alex Hentcho (rechts) wechselt im Paket mit seinen beiden Brüdern von Mainz 05 zum FC Bayern München. – Foto: imago//Reviersport

Moralverfall bei der Talentjagd

05-Nachwuchschef Volker Kersting über fehlenden Anstand und Angebote für Neunjährige

Mainz. Manchmal fragt sich Volker Kersting schon, ob mittlerweile alle verrückt geworden sind. In dieser entrückten Fußballwelt, in der sich Vereine um neunjährige Talente „prügeln“ und dabei Anstand und Moral vermissen lassen. In der Eltern und Kinder viel zu schnell das Gefühl für das richtige Leben verlieren und was man im Arbeitsalltag eigentlich dafür tun muss, um das Geld zu verdienen, das im Nachwuchsfußball im Umlauf ist. Der Mann, der seit 32 Jahren bei Mainz 05 tätig ist und seit vielen Jahren eines der besten Nachwuchsleistungszentren in Deutschland leitet, schüttelt den Kopf. „Was hier gerade passiert?“, stellt er im Gespräch mit dieser Zeitung die Frage und liefert die Antwort sofort hinterher: „Das ist der Markt mittlerweile. Und gegen diesen Markt schwimmst du nicht an. Wir reden über einen absoluten Werteverfall innerhalb dieses Wettbewerbs.“

„Einige Protagonisten sind sehr extrem unterwegs“

Man merkt, wie sehr dieses Thema an ihm nagt. Weil es ihm auch ein Stück weit die Illusion genommen hat, dass man allein mit harter, ehrlicher Arbeit, mit einem kompetenten Team, mit Sachverstand und einer Philosophie mit klaren Werten, die man in einem familiären Umfeld hegt, pflegt und lebt, das man mit diesem feinen Gesamtpaket allein die besten Talente und vielmehr die Erziehungsberechtigten überzeugt. Die Verlockungen sind groß. Waren es vor ein paar Jahren die 12-, 13-, 14-Jährigen, die von der Konkurrenz abgeworben wurden, so gehen die Vereine nun auf der Suche nach Megatalenten praktisch in die Grundschule. Immer früher, immer jünger, immer hemmungsloser.

Einige Protagoniste "extrem unterwegs"

„Da gibt es einige Protagonisten, die da sehr extrem unterwegs sind“, sagt Volker Kersting und meint damit nicht etwa den FC Bayern, der im Sommer die drei Hentcho-Brüder (und deren Vater) vom Mainzer Bruchweg an den Bayern-Campus gelotst hat. Der jüngste Hentcho-Bruder, damals gerade mal neun Jahre alt, gilt als das größte Versprechen der Familie. Auch die 05er hätten das Trio gerne behalten, Kersting investierte Stunden, um die Hentchos vom Bleiben zu überzeugen. Allein: Das Angebot des Rekordmeisters wollten und konnten die Begehrten nicht ausschlagen. Teil des Deals war eine Anstellung des Papas als „internationaler Trainer“. Die 05er kassierten für die beiden älteren Brüder eine in den Statuten festgelegte Ausbildungsentschädigung. „Mit den Bayern ist alles sauber gelaufen“, betont Kersting, „das Interesse war bekannt, man ist auf uns zugekommen, und damit konnte man arbeiten.“

– Foto: IMAGO / Martin Hoffmann

So weit, so gut. Das große Aber: „Es gibt auch sehr viele Protagonisten, denen ist grundsätzlich alles egal. Das ist ein kompletter Moralverfall. Da geht es nur darum, für möglichst viel Geld die besten Talente so früh wie möglich zu holen, und da spielt normaler Anstand keine Rolle mehr. Natürlich holen wir auch junge Spieler aus der Region und irgendwann auch deutschlandweit, aber es ist immer eine Frage, wie du damit umgehst: Dass du deine Kollegen informierst und im Austausch bist. Das ist der Wettbewerb.“ Und der Wettbewerb ist hart.

Nullfünfer Jahr für Jahr oben dabei

Umso bemerkenswerter ist es auch, dass die 05er mit ihren ältesten Jugendteams Jahr für Jahr in der Bundesliga oben mitmischen. Die aktuelle U19 ist momentan das beste A-Jugend-Team Deutschlands. Unbesiegt – und zum Großteil schon seit der E-, D- und C-Jugend zusammen. Grundsätzlich fahren die 05er immer noch gut damit, ihren Fokus auf die talentiertesten Fußballer aus der Region („Einen Zirkel auf Mainz und einen Umkreis von rund 100 Kilometer gedreht“) zu richten. Mainz ist eine der Top-Adressen.

Die höchst angesehene Ausbildung am Wolfgang-Frank-Campus ist eines der stärksten Argumente, die lange Liste der Talente, die den Bruchweg als Sprungbrett in den Profifußball nutzen konnten, ist bekannt. Der Schlüssel zum Erfolg: „Unser Personal und unsere Philosophie.“ Zuverlässigkeit und Vertrauen werden groß geschrieben, wer den Bruchweg mal eben als schnellen Zwischenschritt auf der Karriereleiter ansieht, dem zeigt Kersting die Tür. Man muss sich einfach mit jeder Faser auf die gemeinsame Sache einlassen – sonst funktioniert es nicht.

Jeder Tag im NLZ ist auch ein „Wetten auf die Zukunft“

Und so ist jeder Tag im NLZ auch ein „Wetten auf die Zukunft“, sagt Kersting, „ohne dass man es voraussagen kann, wer am Ende wirklich Profi wird.“ Wer sich durchbeißt. Oder falsch abbiegt. Wer falsch beraten wird. Die großen Themen des NLZ-Alltags: Wie ist der Junge gestrickt? Wie tickt sein Umfeld? Welchen Einfluss üben Eltern, Freundeskreis, Berater und Ausstatter? Wie wird der Junge begleitet und wie wird er geleitet? Kersting setzt fort: „Wird der Junge in Ruhe gelassen? Oder wird hier schon die große Karriere geplant und der Spieler im Kopf verrückt gemacht?“

Womit der 50 Jahre alte Chef des Mainzer NLZ bei einem der mutmaßlich größten Problemfelder angelangt ist: den sozialen Netzwerken. Sie sind Kersting ein Dorn im Auge. „Es ist eines der größten Probleme im Nachwuchsfußball heute, weil das tendenziell als wichtiger angesehen wird als die harte Arbeit. Das sind Faktoren, die eine riesige Rolle spielen und an denen ein Nachwuchsfußballer scheitern kann. Wir sind im Übrigen nicht der größte Einflussfaktor.“ In keinem Elternabend oder Elterngespräch wird er müde zu betonen, dass man seine Kinder am besten so lange wie möglich aus der Öffentlichkeit heraushalte. „Das ist nichts, was den Jungs gut tut. Wir versuchen, präventiv einzuschreiten und Verständnis zu wecken.“

Die Reaktionen? „Von Verständnis und Aha-Effekt bis zu völligem Unverständnis. Du kriegst gesagt: Das ist die Zukunft. Da kannst du argumentieren, wie du willst. Und du kannst als Verein das nicht unterbinden, weil du niemandem verbieten kannst, sein Kind zu filmen.“ Und das passiert Wochenende für Wochenende. Eltern drehen Videos, die anschießend auf TikTok, Instagram und Co. zu sehen sind. „Das ist für uns ein Riesenproblem und das macht auch etwas mit einem Jungen“, sagt Kersting. „Machen wir uns nix vor: Der Junge wird in seiner ganzen Freizeit darüber immer wieder konfrontiert, kriegt immer wieder gesagt, wie gut er ist und bekommt die Bestätigung oder bei Neidern die Anfeindung. Die Eltern posten es auf ihren Accounts und merken gar nicht, was sie in den Jungs auslösen.“ Und zack steckt man in einer Zwickmühle.

Effekthascherei in sozialen Netzwerken ist Riesenproblem

Vielen würde man anmerken, dass sie den Fokus aufs Wesentliche verlieren, dass sich der Fokus verschiebe. Nur: „Wenn ich nicht jeden Tag bereit bin und Spaß daran habe, was ich tue, und jeden Tag nur auf Effekthascherei und die Bestätigung über Social-Media-Kanälen oder auf Ausstatter-Verträge aus bin, wo die Spieler genötigt werden, eine gewisse Anzahl von Posts abzusetzen...“ Wie schnell verliert man bei der Jagd nach Followern und Likes das Wesentliche aus den Augen, hat sich die große Karriere auf einmal erledigt.

Und wie gesagt: Mittlerweile gibt es bei den großen Vereinen fast keinen Zehn- oder Elfjährigen mehr, der keinen Ausstattervertrag (einen fetten Einkaufsgutschein für den Online-Store des Sportartikel-Sponsors inklusive) hat. Dazu kommen Berater, die Eltern auch mal ein „Taschengeld“ in vierstelliger Höhe zustecken, um sich früher oder später um die Belange des talentierten Kindes kümmern zu dürfen. „Je mehr Geld in diesem Wettbewerb ist, umso mehr Leute wollen in diesem Geschäft Fuß fassen“, erklärt Kersting. „Und gerade auch bei den Vereinen: Da will man sich seine Sporen verdienen und den nächsten Step machen und irgendwann in den Bereich, wo der große Kuchen verteilt wird. Das sorgt für absolute Rücksichtslosigkeit. Und wenn du am Spielfeldrand stehst und siehst, was sich da abspielt…“ Dann schüttelt Volker Kersting den Kopf und fragt sich, ob denn alle um ihn herum bekloppt geworden sind.



Aufrufe: 029.12.2022, 05:00 Uhr
Henning KunzAutor