2024-06-14T14:12:32.331Z

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"Ich habe Sachen erlebt, von denen träumt jeder": Nicolai Lorenzoni | Foto: Frank Steinhorst
"Ich habe Sachen erlebt, von denen träumt jeder": Nicolai Lorenzoni | Foto: Frank Steinhorst

Warum Nicolai Lorenzoni eine Entscheidung heute bereut

Nicolai Lorenzoni kommt aus der Jugend des SV Herten, spielte für den SC Freiburg einst im Europapokal und kickt derzeit beim Regionalligisten Rot-Weiß Erfurt

Dem Durchbruch ganz nah. In der Jugend zunächst beim SV Herten, spielte Nicolai Lorenzoni als Spätjugendlicher in der Europa-League für den SC Freiburg – es war ein kurzes Hoch. Über eine Karriere abseits der Scheinwerfer. Und die Realitäten des Profigeschäfts.
Und plötzlich ist es duster. „Das ist der eine Punkt, den ich vielleicht bereue, den ich heute anders gemacht hätte“, sagt Nicolai Lorenzoni an einem späten Donnerstagnachmittag. Es ist eine der seltenen Situationen, in dem der Tonfall des 26-Jährigen einen düsteren Klang annimmt. Was er meint – dazu später. Beide Trainingseinheiten des Tages sind geschafft. In Thüringen hat der Linksverteidiger gerade sein Glück gefunden. Seit August hat der Profi hier die Zelte aufgeschlagen. Ein weiterer Umzug – des Fußballs wegen.

Mit dem vor der Saison runderneuerten Traditionsclub FC Rot-Weiß Erfurt ist der Start in der Regionalliga geglückt. Nach 15 Spieltagen steht der Drittliga-Absteiger aus der Landeshauptstadt auf einem soliden vierten Platz. „Dafür, dass am ersten Tag Niemand Niemanden in der Kabine gekannt hat, können wir sehr zufrieden sein“, findet der gebürtige Liestäler (Schweiz), der acht Partien durchgespielt und bereits zwei Tore vorbereitet hat. Seitdem er eine Rote Karte kassierte, ist er etwas außen vor, doch das heiße nichts, sagen die Kollegen aus der Sportredaktion der Ostthüringer Zeitung. Lorenzoni werde geschätzt von Trainer Thomas Brdaric, dem Ex-Leverkusen-Profi. Nach einer Karriere mit zahlreichen Rückschlägen ist es ein verspätetes Glück für Lorenzoni. Bei einem Club mit großem Namen. Bis zu dieser Saison war RW immer mindestens drittklassig, als Dritter der letzten DDR-Oberliga-Saison 1990/91 qualifizierte man sich für die zweite Bundesliga und den Uefa-Pokal mit Spielen gegen Denis Bergkamp und Ajax Amsterdam. Unter anderem Trainer bei RW: Hans Meyer.

DFB-Pokalsieger mit der Freiburger U19 unter Christian Streich

Das passt alles irgendwie zu Lorenzoni. Denn für ihn gab es vor ein paar Jahren ebenfalls eine Zeit vieler Highlights. Nach Jugendstationen beim SV Herten und dem FC Basel begann mit seinem Umzug nach Freiburg als 17-Jähriger ein Sammelsurium der Traummomente. „Das kann mir keiner nehmen, ich habe Sachen erlebt, von denen träumt jeder“, sagt er. Sogar Mutter Gabriela und Schwester Larissa waren 2009 mit gen Breisgau gezogen, um den Schritt Richtung Profitum beim SC zu erleichtern. Der Plan schien aufzugehen. Anfänglich. 2011 gewann er als A-Jugendlicher unter Christian Streich („ein Weltklassetrainer“) den DFB-Pokal. Im Finale gegen Hansa Rostock galt er als auffälligster Akteur. Im Publikum saß Frank Wormuth, Trainer der deutschen U-20-Nationalmannschaft, der den Verteidiger prompt in seinen Auswahlkader beorderte. Zuvor hatte Lorenzoni zweimal im Kader der SC-Profis gestanden. Eine goldene Zeit. In den Bundesligakader in gerade einmal zwei Jahren.

Nur ein Bundesliga-Einsatz - und eine falsche Entscheidung

Und es sollte noch besser werden. Als Spieler der Reserve gemeldet, trainierte Lorenzoni oft mit den Kumpels Matthias Ginter (heute Mönchengladbach) und Maximilian Philipp (Dortmund) bei den Profis. 2013 wurde er für den Europa-League-Kader gemeldet, er bestritt vier Partien im früheren Uefa-Cup, unter anderem gegen den FC Sevilla mit Ivan Rakitic (FC Barcelona/Ex-Basel). Im Dezember 2013 wurde Lorenzoni in der 81. Minute gegen Borussia Mönchengladbach auch erstmals in der Bundesliga eingesetzt, eingewechselt für Francis Coquelin, der heute beim FC Valencia unter Vertrag steht. „Danach war es ein Wechselbad der Gefühle für mich“, sagt Lorenzoni. Denn es sollten seine einzigen Spielminuten in der Bundesliga bleiben, den Durchbruch hat er nicht geschafft. Was auf den einen Moment verweist, den er als ausschlaggebend für seine Karriere bezeichnet. Immer seltener trainierte Lorenzoni mit der ersten SC-Mannschaft, in der zweiten hörte sein Trainer und Ziehvater Iraklis Metaxas auf, und im Sommer 2014 bat der einst so Hochgehandelte ums Gespräch.

Freiburg bot an, ihn auszuleihen, Lorenzoni traf eine falsche Entscheidung. „Ich hätte bleiben sollen oder das Leihgeschäft wahrnehmen“, beschreibt er den Casus Knaxus seiner Karriere aus heutiger Sicht. Die Weisheit des Rückblicks hilft ihm heute nicht mehr. Damals war die Marktsituation für ihn nach seinen Euro-Auftritten gut, zahlreiche Vereine hatten angeklopft, die Vertragsgespräche mit einem Zweitligisten waren weit gediehen. Dann aber platzte der Deal unerwartet. Und Lorenzoni musste sich kurz vor Ende der Transferperiode nach einem Verein umsehen. Die Wahl fiel auf den Drittligisten Chemnitzer FC. Was Lorenzonis Odyssee einleitete. In Sachsen fasste er sportlich und menschlich nie Fuß, verließ den Club frustriert nach einem halben Jahr. Über den KSV Hessen Kassel (Regionalliga) kam er nach Koblenz und erlebte ein wechselhaftes Jahr, das in einer Insolvenz des TuS endete. Und jetzt also Erfurt.

Nicolai Lorenzoni: "Ich muss an die Zukunft denken."

Lorenzoni steht sinnbildlich für die große, aber wenig beachtete Mehrheit der Fußballprofis. Dem Handelsblatt zufolge schaffen 55 Prozent der U-18-Nationalspieler nicht den Sprung in die Beletage. Die meisten Spieler verdienen ihre Brötchen später tiefer: Die kolportierten Durchschnittsgehälter belaufen sich auf Beträge zwischen Höchstwerten um 120000 (Dritte Liga), 40000 (Regionalliga) und 20000 Euro in der Oberliga.

Unzufrieden ist Lorenzoni nicht. „Ich habe alles probiert.“ Ein paar Jahre Profi sind noch drin. Vor allem wenn es endlich einmal konstant so gut läuft, wie derzeit. Allerdings droht auch Rot-Weiß das finanzielle Aus, dem Fußballstolz Thüringens, schon im Frühjahr stand die Zukunft des Clubs, der Thomas Linke und Clemens Fritz hervorbrachte, in Frage. Lorenzoni kann es nicht beeinflussen – und hofft das Beste.

Schaut er voraus, kann er sich vorstellen, zurück an den Hochrhein zu ziehen. „Ich muss an die Zukunft denken“, betont er. Ausbildung machen, das wird Zeit, und er will eine Familie gründen. Die Ausbildung zum Anlagenmechaniker hatte er in Freiburg im Hoffnungstaumel der Profiaussichten nach dem ersten Jahr abgebrochen. Ein Fehler, hinterher ist man immer schlauer. Bald will er sie nachholen. Gedanklich bereitet sich der ehemalige Hoffnungsträger auf ein Leben nach dem Profileben vor. Erst einmal aber will er in Erfurt noch Spiele gewinnen. Wie immer mit Einsatz und Herz. Und abseits der großen Scheinwerfer.
Aufrufe: 08.11.2018, 18:05 Uhr
Jakob Schönhagen (BZ)Autor