2024-06-14T14:12:32.331Z

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Matthias Hagner. Foto: Schepp
Matthias Hagner. Foto: Schepp

"Es gibt in der Welt auch noch größere Probleme"

+++ Ex-Profi Matthias Hagner hat viel erlebt und noch viel mehr vor +++

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GIESSEN - Der Tellerrand hat es nicht leicht. Immer muss er dafür herhalten, dass über ihn drüber geschaut wird. Oder eben auch nicht. Und der, der über ihn hinaus schaut, das ist ein Mensch, dem sich neue Horizonte eröffnen, weil er eben cleverer ist als all jene, die immer nur in ihrem Teller sitzen und die Wand, respektive den Rand anstarren. Menschen, die über den Tellerrand gucken können, sind, so heißt es, selten. Viele begnügen sich mit ihrem Sitzplatz. Ist ja auch bequem, ist ja auch einfach.

Matthias Hagner, um die Metapher endlich aufzulösen, ist ein Mensch, der immer schon über den Tellerrand hinausblickte. Was ihn aus der Masse des Fußball-Profis heraushebt. Hagner, in Gießen geboren, in Burgsolms aufgewachsen, über die B-Jugend der Frankfurter Eintracht als Fußball-Profi sozialisiert, ist im vergangenen August 40 Jahre jung geworden.

Auf dem Podium des Gießener Anzeigers fühlt er sich wohl, Hagner kann reden, er gibt keine Worthülsen von sich und er ist offenkundig sehr angetan davon, dass mit Heribert Bruchhagen und Karl-Heinz Wagner vom VfB 1900 Gießen Menschen da sind, die auch nicht für den Mainstream babbeln.

Babbeln ist ein Wort, das Hagner zwar nicht benutzt, das ihm aber sympathisch ist. Denn der vierfache Vater, der in Herborn ein Hotel betreibt, ist „Hesse von ganzem Herzen“, wie er sagt. Matthias Hagner hat über 180 Erst- und Zweitligaspiele bestritten, seit er im Jahr 1993/94 in den Profikader der Adlerträger aufrückte, er ist zuvor mit den Eintracht-Junioren Deutscher Meister geworden und hielt 1997 den DFB-Pokal in den Himmel von Berlin. Da spielte er für den VfB Stuttgart, was „emotional meine schönste Zeit war“, wie selbst der Hesse in ihm zugibt.

Aber die Eintracht, die hat ihn geformt. Joachim Löw hieß übrigens der Stuttgarter Trainer, der die Mannschaft um Krasimir Balakow, Fredi Bobic, Giovane Elber und eben Matthias Hagner zum nationalen Pokalsieg führte.

Viele Freunde aus der Stuttgarter Zeit sind ihm geblieben, unter anderem auch Thomas Schneider, der heute Löws Assistent ist. Auch mit Bobic hat er noch engen Kontakt. Wenn Hagner auf Löw angesprochen wird, der knapp 20 Jahre später zum deutschen Weltmeister-Trainer avancierte, dann spricht er etwas leiser, ein wenig mit Hochachtung. „Ein toller Typ, ein toller Mensch“ sei das, einer, der schon Mitte/Ende der 90er Jahre mit seinen Spielern Medienschulung und Gewichte-training machte, oder Lauf- und Koordinationstrainer für unabdingbar erachtete. „Löw hatte Höhen und Tiefen, aber man merkte schon damals, dass er etwas Besonderes war.“

Sagen wir es so: Wenn Hagner, der schon damals seine Meinung gut zu artikulieren wusste, einen letzten Anstoß brauchte, um über den Tellerrand zu blicken. Joachim Löw war mit Sicherheit der richtige Mann. „Bis ich 28 Jahre alt war, hatte ich drei Berater“, sagt Hagner, „ab 28 habe ich meine Verträge alleine gemacht.“

Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: „Die Berater haben mich nur Geld gekostet.“

Tisy, wie ihn seine Freunde nennen, hat viele Lektionen gelernt in seinem Leben, das eng angelehnt an den Fußball verlief. Er ist bescheiden geblieben, weiß, dass „man heute mit drei Mal Training die Woche in der Jugend wie bei uns damals“ nichts mehr reißen könnte, er ist aber auch Stolz auf das Geleistete. Er gibt zu, dass die beiden Jahre bei Borussia Mönchengladbach „sportlich schlecht“ liefen, aber „da habe ich meine Frau kennengelernt, mit der ich seit 14 Jahren verheiratet bin und vier Kinder habe.“

Alles fügt sich, könnte man sagen. Matthias Hagner ist ein positiver Mensch, der Realist genug ist, um beim Thema „Geld- und Werbemarkt“ schon ein bisschen bedauernd dreinzuschauen. Die Thesen, dass der Amateurfußball keine Chance mehr habe gegen die mit goldgepuderten Profiligen, unterstreicht er und sagt, dass „es keine Solidarität und keinen Sozialpakt mehr gibt“. Damit meint Hagner freilich nicht nur den Fußball, Hagner kann mit einer Gesellschaft, in der die Kluft zwischen Armen und Reichen größer wird, nichts anfangen – er mag das nicht hinnehmen. Auch hier sitzt er längst auf dem Tellerrand.

Der 1,86 Meter große, auch nach der Karriere topfit wirkende Ex-Profi, hat auch als Trainer schon einige Etappen durch. Auch da hat er bereits manche Lektion gelernt. Zuletzt war er bei den Sportfreunden Siegen, hat das Wagnis auf sich genommen, den finanziell deutlich abgespeckten Club in der Regionalliga West zu trainieren. Klassenerhalt konnte nur das Ziel sein, doch Hagner wurde entlassen.

Die Mechanismen des Geschäfts griffen auch in der vierten Liga, allerdings mit Geschmäckle, wie der Schwabe in Hagner sagen würde. Im Grunde stand seine Entlassung schon in der Zeitung, bevor er selbst davon wusste, dann wurde dementiert und ein paar Wochen später war es dann doch so weit.

Für Matthias Hagner, einen Menschen mit ausgeprägtem Gerechtigkeitsgefühl, ist so etwas „zutiefst enttäuschend“. Nun, sein Vertrag läuft noch zwei Jahre, im nächsten Jahr möchte der A-Lizenzinhaber seinen Fußball-Lehrer machen. Und eventuell ein Studium der Psychologie oder Sportpsychologie. „Da bekommt man einen ganz anderen Blickwinkel auf die Dinge“, sagt Hagner, der die Arbeit eines Mentaltrainers oder Coaches „damals auch gerne mal in Anspruch genommen hätte“.

Irgendwann, da war Hagner Trainer beim VfB 1900 Gießen, sagte er in einem Gespräch: „Da sitzen die Jungs in der Kabine nach einem 1:1 und sind total sauer, ich kann das verstehen, das gehört dazu, aber ich habe ihnen auch gesagt: Guckt euch mal um, es gibt in der Welt auch noch größere Probleme.“ Hagner lebt für den Fußball, mit ganzem Herzen. Aber er weiß auch die Dinge einzuordnen. Und ein Tellerrand, der ist sowieso zu flach für ihn.

Aufrufe: 011.12.2014, 10:29 Uhr
Rüdiger DittrichAutor