2024-05-02T16:12:49.858Z

Ligabericht
Neu in Gießen, Nikola Trkulja: „Die Stadt ist klasse.“	Foto: Fischer
Neu in Gießen, Nikola Trkulja: „Die Stadt ist klasse.“ Foto: Fischer

Eine spannende Herausforderung

RL SÜDWEST: +++ Nikola Trkulja freut sich auf die neue Saison mit dem FC Gießen, hat aber die alte beim TSV Steinbach noch immer nicht vergessen +++

Gießen. Weltmeister, viermal Champions-League-Sieger – Toni Kroos, vor sechs Jahren von Bayern München zu Real Madrid gewechselt, gehört zu den ganz Großen des Weltfußballs. Wie Thomas Müller. Der waschechte Oberbayer wurde 2010 WM-Torschützenkönig und holte sich danach mit dem deutschen Rekordmeister fast jeden nur erdenklichen Titel. Die meisten davon an der Seite des Österreichers David Alaba, einem Münchner Eigengewächs.

Sie alle spielten zwischen 2006 und 2009 zusammen mit Nikola Trkulja. Im Jugend-Internat von Bayern München. Betreut von „Tiger“ Hermann Gerland, heute Assistent von Cheftrainer Hansi Flick, von Kurt Niedermayer und „Bomber“ Gerd Müller. „Nikola und Toni Kroos waren zu dieser Zeit die größten Mittelfeld-Talente, die Deutschland zu bieten hatte“, glänzen noch heute die Augen von Dragan Trkulja, wenn er bald eineinhalb Jahrzehnte zurückdenkt.

Der Vater des neuen Regisseurs des Südwest-Regionalligisten FC Gießen weiß, wovon er spricht. Denn – eine kleine Reminiszenz muss erlaubt sein – der heute 55-Jährige schoss den von Ralf Rangnick gecoachten SSV Ulm einst in die Bundesliga. Und er war auch der einzige bekannte „Überlebende“ jener Tragödie, die die „Spatzen“ bis in die Verbandsliga abstürzen ließ. Im Jahre 2000 fehlte am südöstlichen Rand der Schwäbischen Alb das Geld an allen Ecken und Enden. „Stunde Null“ – auch für den Star von einst. Nach dem Abstieg meldete sich Trkulja senior arbeitslos. Plötzlich war er kein Berufsfußballer mehr, sondern Amateur. Selbstständig wollte er sich machen, „einen Toto-Lotto-Laden betreiben“ mit seiner Frau Dragica, was jedoch nur ein halbes Jahr funktionierte. „Ich habe“, sagte Trkulja einst, „schließlich keine Millionen verdient.“

1992 kam der Serbe vom FK Becej, seinem Heimatclub. Und hat die Ulmer mit rund 130 Toren aus der Oberliga ganz nach oben geschossen. Mit Rangnick im Rücken gelangen ihm die entscheidenden 15 in der Zweitligasaison 1998/99, „obwohl ich zwei Monate verletzt war.“ Über Nacht war Ulm erstklassig. Warum der nächste Coach, Martin Andermatt, in der Bundesliga kaum auf ihn setzte? Ein Schulterzucken. Trkulja: „Immer wieder werden dieselben Fehler gemacht. Überall. Ein Verein ist plötzlich oben und kauft wahllos Verstärkungen. Und wenn es nicht klappt, wird weiter wild gekauft, und irgendwann bricht das Chaos aus. Wie einst bei uns in Ulm.“ Neue Trainer, neue Stürmer, Ende der Kameradschaft, Ende des Traums. „Mit Rangnick“, schwört Dragan Trkulja, „wären wir sicher noch lange der Favoritenschreck schlechthin in der Bundesliga gewesen.“

Doch zurück zum Sohnemann, der ein Jahr alt war, als Dragan, Dragica, die vierjährige Natascha und der kleine Nikola Sombor verließen, um in Deutschland ihr Glück zu suchen. Was der Vater erreichte, ist dem Junior nicht gelungen. Noch nicht. Der Papa jedenfalls glaubt an seinen Sohn. „Er hat Potenzial, er ist noch lange nicht am Ende seines Weges.“

Doch warum spielt der Sohn, der einst als Stürmer begann, inzwischen aber auf der Zehn all jene Freiheiten genießt, die einen großgewachsenen, robusten, aber technisch äußerst versierten Fußballer ausmachen, „nur“ in Liga vier? Weil er sich als junger, unerfahrener Bursche auf einen Berater verließ, dem das schnelle Geld wichtiger war als eine langsame, aber stetige Entwicklung.

„In der A-Jugend der Bayern hatte ich ständig Rückenprobleme, weil ich sehr schnell sehr groß geworden bin“, erinnert sich Nikola Trkulja, heute 1,91 Meter. Erst durfte er unter Jürgen Klinsmann und Ottmar Hitzfeld einige Einheiten mitmachen, dann verlor er ein wenig den Anschluss. Schließlich erhielt er ein Angebot des Lokalrivalen 1860. „Dort sollte ich mit den Profis trainieren und bei den Amateuren spielen.“ Während er bei den „Blauen“ unter Coach Niki Stevic keine Chance bekam, sich als Vertragsspieler zu etablieren, übernahm bei den „Roten“ der Niederländer Louis van Gaal das Kommando und setzte verstärkt auf den Nachwuchs aus den eigenen Reihen. Zu dem Nikola Trkulja seit einigen Monaten nicht mehr gehörte. Aus der Traum von der Bundesliga, die Vater Dragan dem SSV Ulm viele Jahre zuvor noch beschert hatte.

Womit sich Nikola Trkulja jedoch längst arrangiert hat. Schließlich hat er beim FC Gießen eine neue, eine spannende Herausforderung gefunden. „Die Mannschaft ist gut, viele werden sich über uns noch wundern“, ist sich der 29-Jährige sicher, mit den Unistädtern in der Regionalliga eine gute Rolle spielen zu können. Eine, bei der er selbst den Takt mitbestimmt. Was ihm zuletzt beim Liga-Rivalen TSV Steinbach Haiger nicht mehr vergönnt war.

Thomas Brdaric, der ihn zusammen mit Sargis Adamyan von der TSG Neustrelitz holte, hielt große Stücke auf den Edeltechniker. Auch dessen Nachfolger Mattias Mink setzte auf Nikola Trkulja. Als aber Adrian Alipour in den nördlichen Lahn-Dill-Kreis kam, war es mit der Herrlichkeit vorbei. Nach drei Spielen Sperre durch den Deutschen Fußball-Bund sowie einer saftigen Geldstrafe durch den Verein, weil er Sportwetten abgeschlossen hatte, was ihm als Profi untersagt ist, verbrachte er den Herbst 2019 nur noch auf der Tribüne statt auf dem Rasen.

Es war eine Situation, die dem „Unterschiedsspieler“, wie er sich selbst bezeichnet, weh tat. Und die ihn bis heute beschäftigt. „Ich habe viel für Steinbach geleistet und immer alles gegeben. Mich plötzlich zu ignorieren, mich links liegen zu lassen, das war respektlos.“ Mit den Protagonisten von einst will er heute nichts mehr zu tun haben. Nicht einmal mehr einen Gruß unter Sportlern. „Dafür bin ich viel zu stolz.“

In Gießen hat Nikola Trkulja nicht nur eine Wohnung, sondern auch Freunde gefunden. „Die Stadt ist klasse, ich kann hier viel unternehmen. Und die Mitspielen haben mich toll aufgenommen, zwischen diesem Team und dem in Steinbach liegen Welten.“ Dass seine persönliche Revanche mit seinem Ex-Arbeitgeber im Hessenpokal-Halbfinale mit einer 1:2-Niederlage und einigen unschönen Wortgefechten auf dem Rasen und vor den Kabinen endete, nimmt der gebürtige Serbe locker. „Man sieht sich immer zweimal im Leben.“ Im Falle des FC Gießen und des TSV Steinbach Haiger am 3. November und am 24. April. Es werden emotionale Achterbahnfahrten für Nikola Trkulja. Wie einst an der Seite von Toni Kroos, Thomas Müller und David Alaba.



Zur Person

- Nikola Trkulja (29) begann mit dem Fußballspielen in der Jugend des SSV Ulm. Danach zog es ihn in den Nachwuchs von Bayern München sowie zur zweiten Mannschaft von 1860 München. Über den serbischen Club FK Sopot Belgrad kehrte er 2012 zum SSV Ulm zurück, ehe er sich schließlich dem Nordost-Regionalligisten TSG Neustrelitz anschloss. Ab Januar 2016 spielte Nikola Trkulja für den TSV Steinbach, im Winter 2019/20 ging die Reise weiter zum Oberligisten Stuttgarter Kickers, für den er Corona-bedingt aber nur eine Partie absolvierte. Als Marco Vollhardt, Teammanager des FC Gießen, mit dem Trkulja einst in der Jugend des FC Bayern München zusammenspielte, anrief, entschloss er sich zum Wechsel an die Lahn. (afi)

Aufrufe: 08.9.2020, 08:00 Uhr
Alexander Fischer (Gießener Anzeiger)Autor