2024-06-04T08:56:08.599Z

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Hinterländer Fußballpioniere (links): Die Mannschaft des FV Breidenbach im Gründungsjahr 1909 bildeten (hintere Reihe, von links) K. Schneider, Heinrich Achenbach, F. Reitz, Ludwig Blöcher, Herbst, A. Schmidt, A. Kamm; (2. Reihe von hinten) Wilhelm Schelhaas, Paul Schöndorf, Otto Meuser; (2. Reihe von vorne) H. Runkel, K. Schmidt, F. Künkel, F. Becker, Ludwig SchmidtVIII., L. Weber; (vordere Reihe) J. Seibel, Meier und Fritz Gerlach. Rechts drei Helden der späten 1930er-Jahre. Das Team um die Brüder (von links) Otto, Karl und Wilhelm Becker spielte um den Gauliga-Aufstieg. 	Fotos: Archiv FV 09 Breidenbach
Hinterländer Fußballpioniere (links): Die Mannschaft des FV Breidenbach im Gründungsjahr 1909 bildeten (hintere Reihe, von links) K. Schneider, Heinrich Achenbach, F. Reitz, Ludwig Blöcher, Herbst, A. Schmidt, A. Kamm; (2. Reihe von hinten) Wilhelm Schelhaas, Paul Schöndorf, Otto Meuser; (2. Reihe von vorne) H. Runkel, K. Schmidt, F. Künkel, F. Becker, Ludwig SchmidtVIII., L. Weber; (vordere Reihe) J. Seibel, Meier und Fritz Gerlach. Rechts drei Helden der späten 1930er-Jahre. Das Team um die Brüder (von links) Otto, Karl und Wilhelm Becker spielte um den Gauliga-Aufstieg. Fotos: Archiv FV 09 Breidenbach

Die Fußball-Epidemie grassiert seit 111 Jahren

GESCHICHTE: +++ Wiege des Hinterländer Fußballs steht in Breidenbach +++

Hinterland. Die Wiege des Hinterländer Fußballs steht unbestritten in Breidenbach. 111 Jahre ist es mittlerweile her, dass der Ball in dem damals gerade einmal 940 Einwohner zählenden Ort zum ersten Mal rollte und der erste Fußballverein des Hinterlands gegründet wurde. Nehmen wird dieses – etwas ungewöhnliche – Jubiläum zum Anlass in die Sportgeschichte zurückzublicken.

Fußball gehört zu Breidenbach, wie der schiefe Kirchturm. Durch den Fußball ist Breidenbach weit über die Grenzen des Hinterlandes bekannt geworden. Das Fußballspiel war und ist das große gemeinschaftliche Erlebnis. Es ließ Freundschaften entstehen, die auch noch nach der Zeit des aktiven Sportes Bestand haben, und bei vielen Breidenbacher Paaren ist der Fußball Ehevermittler gewesen. In den besten Jahren des Vereins brachte der Fußball das ganze Dorf in Bewegung. Am Sonntagnachmittag führte der Weg der Männerwelt ganz selbstverständlich in Schlips und Kragen auf den Sportplatz und auch bei einem Auswärtsspiel wurde die Mannschaft begleitet. Außer den Jahren der beiden Weltkriege hat es keine Unterbrechungen des Spielbetriebes aus sportlichen Gründen gegeben. Eine Spielpause wegen einer Epidemie, wie zur heutigen Zeit, hat es nie gegeben.

Die eigentliche Geburtsstunde des FV 09 Breidenbach war schon im Spätsommer 1909, als ein 18-Jähriger namens Wilhelm Schelhaas als Kaufmann zur Firma Ritter nach Breidenbach kam. Er hatte das Fußballspielen in seinem Heimatort Wertheim in einer Kolonialschule der Engländer gelernt. Den jungen Männern in unserer Region war der Sport von der Insel zur damaligen Zeit noch fremd. Das Turnen war im Kaiserreich der gewünschte und geförderte Volkssport, das Fußballspiel hingegen war verpönt.

Doch Wilhelm Schelhaas verstand es, die Jugendlichen und jungen Männer für den Fußball zu begeistern, sie allmählich in die Geheimnisse des neuen Ballspiels einzuweihen. Für sie stand das Spiel in einer Mannschaft, das Gemeinschaftserlebnis im Vordergrund ihrer sportlichen Betätigung auf Wiesen und Plätzen, mit provisorisch aufgestellten Torstangen. Sie fanden an dieser Spielerei so viel Freude, dass sie sich zu einer Vereinsgründung zusammen fanden. Schelhaas hatte aus Wertheim einen Fußball, ein paar Fußballschuhe, ein Sport- und ein Torwartdress mitgebracht. Für die Namensgebung des Vereins stand ein, auf dem Torwartdress eingestickter Adler Pate: Man nannte sich „Fußballclub Adler Breidenbach“. Um dem Verein eine Struktur mit Vorstand, Satzung, Spielregeln und Spielangeboten zu geben, gab es eine weitere Versammlung im Frühjahr 1910. Im Dorf gab es nun keinen Winkel, kein halbwegs dafür geeignetes Plätzchen mehr, auf dem nicht gekickt wurde.

Zerfetzte Schuhe, oft das einzige Paar, und lädierte Beine waren das Ergebnis, und dafür gab es zu Hause nicht nur lobende Worte zu hören. Auf große Begeisterung stießen die Fußballpioniere weder bei den Eltern, noch bei den Gemeindeoberen, die für das „Ball hinterherlaufen“ kein Verständnis aufbrachten.

Das war allerdings nicht nur in Breidenbach so, denn liest man in den Chroniken der Hinterländer Fußballvereine nach, so findet man überall die gleiche Geschichte vom Unverständnis der „Alten“ gegenüber den „Jungen,“ die sich in dieses Ballspiel verliebt hatten. Belegt wird dies für Breidenbach durch einen Beschluss der Gemeindevertretung. Als der Verein im Frühjahr 1911 die Gemeinde um eine Unterstützung für eine Sportveranstaltung mit Volks- und Jugendspielen bat, erhielt er folgenden Bescheid: „Man hält auf dem Land Spielübungen für Schulkinder außer der Schulzeit nicht für erforderlich, denn da werden dieselben zu landwirtschaftlichen Arbeiten herangezogen, was denselben Bewegung verschafft!“

Doch es gab auch Bewunderer der jungen Sportart im Hinterland. Es ist schon erstaunlich, dass gerade der damalige Landrat Dr. Daniels ein großer Freund des neu gegründeten Fußballvereins war. Als es in einer Gemeindevertretersitzung um die Bereitstellung eines gemeindlichen Grundstückes für die Anlage eines Spielfeldes ging, war er zugegen, um den Herren Gemeindevertretern seine Zuneigung und sein großes Interesse am FC Adler deutlich zu machen, und sie zu entsprechenden Beschlüssen zu bewegen. Daniels war es auch, der sich als erster finanzieller Förderer zeigte und dafür sorgte, dass der Verein vom Kreis eine jährliche Zuwendung von 30 Mark erhielt. Die Gemeinde überließ dem Verein zu einem Pachtpreis von 20 Mark pro Jahr ein Grundstück an der Perf (heute der Breidenbacher Festplatz), das von den jungen Männer zu einem Spielplatz hergerichtet wurde.

Zur Gründerzeit der Hinterländer Fußballvereine war das Thema Sportplatzsuche nicht nur in Breidenbach ein Problem. Wünschenswerte Flächen in Tallage waren für die Fußballenthusiasten nicht zu bekommen, da waren ja die besten Äcker und die besten Wiesen und so wurden sie auf höher gelegene Viehweiden oder felsige Klippen verwiesen. Nichts Ungewöhnliches, wenn über den Platz ein Weg führte und es deshalb zu Spielunterbrechungen kam, oder es musste ein Baum oder Baumstumpf umspielt werden. Unter heute nicht vorstellbaren Verhältnissen wurde gekickt. Ausgediente Arbeitsschuhe mit Stoßeisen und Nägeln oder klobige Schuhe mit Stahlkappen dienten als Fußballschuhe. Die Bälle waren unförmig und groß und wurden bei Nässe schwer wie Bleikugeln. Die Spieler gingen zu Fuß oder fuhren mit Pferdewagen zu den Auswärtsspielen und mussten mangels Umkleide- oder Duschmöglichkeiten ungewaschen den Heimweg antreten. Heute nicht mehr vorstellbar, dass zu dieser Zeit die Beschaffung eines Balls oder Torwartpullovers Tagesordnungspunkte bei einer Mitgliederversammlung waren.

Der Breidenbacher Verein schloss sich 1919 dem damaligen Westdeutschen Fußballverband an, spielte fortan geregelt in Spielklassen. Beim zehnjährigen „Stiftungsfest“ änderte man den Vereinsnamen in FV 09 Breidenbach und wechselte die Spielkleidung auf Schwarz-Gelb. Zu den Farben Blau-Weiß aus der Gründerzeit kehrte der FV erst 1936 zurück. Anlass war die Eröffnung das Hausbergsportplatzes, welche dem Fußballsport nicht so gut gesonnene Bürgern wie folgt kommentiert haben sollen: „Jetzt ho mersche endlich weit genung weg!“

Der Hausberg sollte für den FV 09 etwas ganz Besonderes werden. Wegen seiner herrlichen Lage wurde er von Besuchern aus nah und fern geliebt, hier hatte der Verein seine größten und schönsten Erfolge. Hunderte, ja Tausende Zuschauer zog es insbesondere zu den großen Spielen der Süddeutschen Hauptpokalrunde auf den Hausberg. 3400 sahen 1963 den 3:2-Sieg gegen den Regionalligisten Borussia Fulda, 4000 das große Match beim 2:4 gegen Hessen Kassel. 3600 Besucher waren dabei, als Kickers Offenbach 1965 hart um den 4:1-Sieg kämpfen musste. Rekordkulisse bei Pokalspielen waren 5000 Zuschauer, als der FSV Frankfurt 1967 alle Register seines Könnens ziehen musste, um weiter zu kommen. „Nur“ 800 Fans erlebten 1970 den 4:0-Triumph gegen Opel Rüsselsheim. 4500 bejubelten gegen den Karlsruher SC, bei dem damals Breidenbachs langjähriger Spieler und Trainer Gerd Becker kickte, den 1:1-Ausgleich (54.), ehe der KSC noch auf 6:1 davonzog. „Pokalschreck FV 09 Breidenbach!“, schrieb eine Sportzeitung – „Was wären die Spiele ohne diesen Außenseiter aus dem Hinterland!“

Erinnerungen an den legendären Sportplatz kommen auch auf, denkt man an die Aufstiegsspiele zur Gauliga, damals die höchste Spielklasse in Deutschland, in der Saison 1936/37. Nach Siegen gegen Sport Kassel (3:0), Lauterbach (3:0) und Reichsbahn Bebra (8:0) fuhr der FV als Tabellenführer nach Kassel, musste aber eine empfindliche Niederlage einstecken und die Aufstiegsträume begraben. Hauptstützen der Mannschaft waren die Brüder Otto, Karl und Wilhelm Becker. Genau 30 Jahre später sollte eine neue Generation die größten Vereinserfolge feiern. Das Team mit dem 105-Tore-Sturm Lothar Seibel, Gerd Sänger und Erich Braun stieg 1967 in die Hessenliga auf und gewann in Butzbach mit einem 4:1-Sieg gegen Somborn auch den Hessenpokal.

Übertroffen wurde das alles von einem Freundschaftsspiel. Zum 50. Vereinsgeburtstag gastierte der 1. FC Kaiserslautern in Breidenbach. 8000 Zuschauer strömten auf den Hausberg, um die Helden von Bern, Fritz Walter, Werner Liebrich und Horst Eckel, zu bewundern, die gegen eine von Erich Bergen angeführte verstärkte Mannschaft des FV 09 antraten. Wer damals dabei war, schwärmt noch heute von diesem einmaligen Erlebnis.

Dass der Fußball einmal die beliebteste Sportart werden sollte, in die sich Akteure und Anhänger gemeinsam verlieben würden, das haben die Pioniere von 1909 sicher nicht gedacht und das kritische Umfeld von damals würde sich wohl darüber wundern, was aus dem „Ball hinterherlaufen“ geworden ist.



Aufrufe: 019.6.2020, 20:00 Uhr
Karl-Heinz Becker (Hinterländer Anzeiger)Autor