Fußball-Veteranen mit einem gut entwickelten Langzeitgedächtnis werden sich erinnern. Wer in den 1960er oder frühen 1970er Jahren über die häufig tiefen Plätze am Niederrhein dem Ball hinterherlief, der weiß noch heute, wie es sich anfühlte, wenn die einst so leichte Lederkugel sich im Laufe eines Trainings oder Spiels mit Wasser vollsog. Wenn sie beim Kopfball tiefe Abdrücke auf der Stirn hinterließ, wenn sie nur noch von Schwerathleten weiter als 20 Meter bewegt werden konnte. Wenn einem doch mal der Spaß verging.
Einem Gocher Unternehmen ist zu verdanken, dass der Spaß bald witterungsunabhängig wurde. Derbystar gehörte Ende der 1970er Jahre zu den ersten Firmen, die ihre Bälle aus dem Kunststoff Polyutheran fertigten. Das Wasser perlte ab, der Ball flog auch noch, als die Spieler längst drohten, im tiefen Boden zu versinken. Es begann die Zeit, in der viele zwar immer noch vom „runden Leder“ fabulierten, längst aber schon eine Kunststoffkugel im Einsatz sahen. Das „runde Polyutheran“ hört sich einfach nicht so gut an.
Derbystar hatte damit seinem bereits populären Produkt einen weiteren Vorteil auf dem schon damals umkämpften Markt verschafft. Denn viele Klubs, besonders im Westen, schworen bereits vor 50 Jahren auf den Ball aus Goch. Borussia Mönchengladbachs Meistertrainer Hennes Weisweiler sagte zum Beispiel: „Derbystar-Bälle sind nicht nur rund, sie haben auch Leben.“ Sie hatten immer etwas Besonderes, das sie von den Produkten der Konkurrenz unterschied. Diesen Eindruck können anfangs erwähnte Fußball-Veteranen (nicht nur die Lokalpatrioten aus Goch) ebenso bestätigen wie aktuelle Stars der Bundesliga. Der Mönchengladbacher Torwart Yann Sommer erklärte vor zwei Jahren: „Das ist ein guter, ehrlicher Ball.“ Ehrlich sagen die Fußballer, wenn sie dem Spielgerät bestätigen, wenig zu flattern, gute Flugeigenschaften zu haben und generell dahin zu fliegen, wo ihn Torhüter von der Flugbahn her erwarten und wohin Feldspieler gezielt haben – vorausgesetzt, sie hatten die richtige Fußhaltung. Technische Fehler verzeiht natürlich auch der Derbystar-Ball nicht.
Dass Sommer die Eigenschaften des Produkts aus der kleinen Stadt am Niederrhein ausgiebig preisen kann, hat seinen tieferen Grund in einer mittleren Sensation auf dem Sportartikel-Markt. Denn seit 2018 ist der Derbystar der offizielle Spielball der ersten und zweiten Profiliga. Vor elf Jahren hatte die Deutsche Fußball Liga (DFL) entschieden, die Markenvielfalt auf den Fußballfeldern der ersten beiden Profiligen zu beenden. Den Zuschlag bekam zu Beginn der Branchenriese Adidas. Das hatten viele erwartet, weil der Dax-Konzern unter anderem seit Urzeiten mit dem Deutschen Fußball-Bund verbändelt war.
Derbystar aber löste den Giganten ab. Nicht nur der Gocher Bürgermeister Ulrich Knickrehm staunte. „Wenn sich ein mittelständisches Unternehmen gegen einen Global Player durchsetzt, ist das etwas Besonderes“, sagte er. Zahlen unterstreichen, dass in diesem Wettbewerb David gegen Goliath angetreten ist. Adidas setzt im Jahr rund 22 Milliarden Euro um, Derbystar etwa 18 Millionen (vor Corona). Es muss wohl etwas mit der Qualität des Balles zu tun haben, dass die DFL sich gegen den Riesen aus Herzogenaurach entschieden hat. Die Gocher drücken es anders aus. Sie sagen: Die DFL hat sich nicht gegen Adidas, sondern für Derbystar entschieden. Und sie berufen sich auf die Geschäftsmaxime ihres Gründers Josef Moll-Thissen. „Entscheidend ist immer die Qualität des Angebots“, hatte der gesagt.
Er war in den frühen 1960er Jahren Inhaber einer kleinen Lederfabrik in Goch, die zuerst Reitsättel und Gamaschen für den Pferdesport und bald auch Bälle herstellte. Moll übernahm die Produktion eines anderen Herstellers, ließ aber wie dieser die Bälle zunächst in der Klever Justizvollzugsanstalt zusammennähen. 1968 wurde die Ballsparte unter ihrem noch heute gültigen Namen Derbystar selbstständig. Der Gründer zog Ende der 1960er in die Schweiz, und seine Nachfolger überzeugten mit ihren Produkten Klubs wie Mönchengladbach, MSV Duisburg und Werder Bremen. Amateurspieler überzeugte der Ball ebenfalls. Und das führte dazu, dass die Firma in der Zeit, in der sie in der Bundesliga nicht vertreten war, nach eigenen Angaben ihren Umsatz verdoppeln konnte. Die Basis trägt Derbystar immer noch.
Trotzdem sichert der Profifußball selbstverständlich das große internationale Ansehen. Nicht nur die Bundesliga spielt mit dem Ball aus Goch, auch die niederländische Eredivisie oder die Ligen in Norwegen, Spanien, Dänemark und Kanada. In diesem Schaufenster fühlen sich die Niederrheiner wohl. Und sie können sich selbst für ihre Schöpfung begeistern. „Der Ball ist ein Wahnsinn“, sagte Andreas Filipovic, neben Joachim Böhmer einer von zwei Geschäftsleitern, vor der Saison, „ein Ball muss ehrlich sein, er muss die perfekte Rundung haben, er muss optimale Flug- und Sprungeigenschaften haben, er darf die Spieleigenschaften nicht verändern.“ Man darf unterstellen, dass Filipovic all diese Qualitätsmerkmale beim Bundesliga-Spielball sieht. Der besteht immer noch aus 20 Sechsecken und zwölf Fünfecken. Zusammengenäht wird er seit langem in Sialkot (Pakistan) – wie 90 Prozent aller Bälle auf der Welt. Auf die unvermeidliche Frage nach den Arbeitsbedingungen antwortet das Unternehmen: „Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst.“
Das Geheimnis des erfolgreichen Spielgeräts liegt in der Oberfläche und im Innenleben gleichermaßen. Darüber wird natürlich nichts verraten. Nur so viel: Getestet wird bei den Klubs unter Ausschluss neugieriger Beobachter und im Windkanal. Hightech eben. 1,5 Millionen Bälle bringen die Gocher pro Jahr auf den Markt, irgendwann (nach Corona) sollen es mal zwei Millionen sein. Zwei Millionen Argumente für die Zusammenarbeit mit der DFL, die offenbar sehr überzeugt von Gochs Exportartikel Nummer eins ist. Schon im Frühjahr 2021 bekam Derbystar den Zuschlag für weitere vier Jahre ab 2022. Goch bleibt damit erstklassig. Und wieder war der David von der holländischen Grenze gegen all die Goliaths auf dem Weltmarkt angetreten.