2024-05-08T14:46:11.570Z

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Fahnen schwenken für die Kickers: 6300 Zuschauer waren beim Oberliga-Spiel gegen Reutlingen dabei. Foto: Pressefoto Baumann
Fahnen schwenken für die Kickers: 6300 Zuschauer waren beim Oberliga-Spiel gegen Reutlingen dabei. Foto: Pressefoto Baumann

Kolumne: Im Regen unterm neuen Dach der Stuttgarter Kickers

Joe Bauer berichtet von seinem Besuch beim Spiel der Blauen gegen Reutlingen

Unser Stadtspaziergänger Joe Bauer macht sich auf die Socken, die er auf dem Weihnachtsmarkt erstanden hat. Sein Weg führt von den Wasserwerfern der Polizei in den Regen auf der Waldau.

Eine ist nicht nur Kopfsache, ­sondern auch Bauchladen: eine Wörterkiste, in die man gescheites und dummes Zeugs stopfen und später feilhalten kann. Nicht verwechseln darf man die Wörterkiste mit dem alten Setzkasten, an den sich nur ­erinnert, wer noch das Blei in der Zeitung gerochen hat, bevor Computer und künst­liche Intelligenz unser Hirn ersetzten. Dass man mit Blei einst gleichzeitig Buchstaben zum Textdrucken und Patronenkugeln zum Totschießen hergestellt hat, erklärt uns die ganze Tragödie des technischen Fortschritts. Viele Menschen sind sogar bis ­heute überzeugt, die Wahrheit über das Leben nicht aus der Zeitung, sondern beim Bleigießen an Silvester zu erfahren.

So weit sind wir aber noch nicht. Das Jahr dauert noch ein paar Tage. Jetzt kommt erst mal Weihnachten. Über Sinn und Unsinn gigantischer Weihnachtsmärkte wird seit je heftig gestritten. Unsereins ist ein glühender Verfechter der Kitschbasare. Glühend nicht unbedingt wegen des ­aufgekochten und stinkenden Fusels zur erotischen und hormonellen Mobilisierung unserer berauschenden Rummelplatzengel.

Vergangenen Samstag kaufte ich mir am erstbesten Stand unseres Glühweindorfs ein Päckchen Socken, das mir prompt den Sonntag und das Leben rettete. Trotz ­stürmischen Dauerregens in der Kälte auf Degerlochs Höhen überstand ich zum ersten Mal in meiner langen Laufbahn als Zaungast ein Spiel der Stuttgarter Kickers ohne kalte Füße. Das mag auch an der packenden Partie und unserem grandiosen 1:0-Sieg gegen unseren Spitzenplatz­konkurrenten aus Reutlingen gelegen haben. Ohne meine nagelneuen Weihnachtsmarktsocken jedoch hätte ich mir bereits beim ersten Blick in die Wolken mehr Zehen abgefroren als Reinhold Messner in seiner ganzen Himmelstürmerkarriere.

Eine harte Zeit des Totentanzes

Bekanntlich hatten wir auf unserem Sportplatz unterm Fernsehturm in ­unzähligen Spielen mit der zeitweiligen ­Verschandlung unserer Fußballheimat zu kämpfen. Weil das lange unbemerkt ver­faulende Dach über unseren Stehplätzen wegen Einsturzgefahr entfernt und erneuert werden musste, standen wir eine Ewigkeit lang in einer Art Geisterstadion mit Bretterverschlägen herum. Unsere Spieler mussten sich angesichts des zugenagelten Fanflügels vorkommen wie Musiker, die hinter dem Vorhang spielen. Nicht etwa, weil sie unseren Jubel vermisst hätten. Vielmehr senkten unsere ausbleibenden Zornesausbrüche und Beschimpfungen ihre Motivation ­zeitweise bis unter null. Die Neigung zum Masochismus in der Holzklasse des Fußballs braucht ihre Streicheleinheiten. Wir auf den Stehplätzen wiederum, ein­gepfercht in ein Notaufnahmelager hinter dem Tor mit Blick durch einen Drahtverhau, durchlebten eine harte Zeit des Totentanzes, bis unsere blauen­ Jungs in die fünfte Liga abgestürzt waren.

Zeit, den Buchladen zu sortieren

Gegen Reutlingen feierten wir mit 6300 Zuschauern zwar die ersehnte Rückkehr in unsere – bisher nur teilweise wiedereröffneten – Fanblöcke mit neuem Dach. Doch ist unsere Decke, wenn auch vom Rathaus so angekündigt, verdammt kurz geraten. Gut 40 Prozent unserer tapferen Frauen und Männer auf den Rängen stehen im Regen, weil angeblich die Träger kein größeres Dach vertragen. Dummerweise sind unsere Stehplätze nicht wie andere Kulturstätten der Stadt als vollgeile Partylocations für Investmentbanker und Immobilienhaie geeignet. Sonst hätten uns die Lobbyisten im Gemeinderat garantiert ein Dach in der Länge von der Waldau bis zum Weihnachtsmarkt spendiert. Komme mir jetzt bloß keiner mit dem Argument, mein Vergleich des Kickersplatzes mit anderen Kulturbühnen hinke. Auf einem Fußballplatz der fünften Liga hinken noch ganz andere Dinge.

Damit ist es Zeit, meinen Bauchladen zu sortieren. Die dicken Socken hatte ich mir nicht etwa in weiser Voraussicht auf die soziale Kälte gegenüber Menschen der unteren Klasse gekauft. Vielmehr wuchs das Bedürfnis nach gut durchbluteten Füßen, als ich die Demonstration eines AfD-Landtagsabgeordneten namens Räpple und ­seiner 40-köpfigen Gefolgschaft auf dem Kronprinzplatz „gegen die Abschaffung Deutschlands“ besuchte. Eine Polizeiarmee hatte zwei Wasserwerfer für den Fall auf­gefahren, dass der Regen nachlassen und deshalb das Wachstum Deutschlands ­gefährdet sein könnte.

Nicht nur ein paar Socken gekauft

Herr Räpple erzählte den Leuten, die Jusos seien „Terroristen“ und hätten vor, zur Abschaffung Deutschlands Abtreibungen bis zum neunten Monat einzuführen. Womöglich aber ist dies nicht mal die volle Wahrheit. Meines Wissens planen die ­Sozen-Zöglinge Abtreibungen auch noch Jahre nach der Geburt – und ­fordern ­vehement, den Kaiserschnitt in Zukunft ausschließlich an der Kehle der Mutter durchzuführen. Damit sind sie ­vermutlich noch gefährlicher als unsere Sportskameraden aus Reutlingen, die Böller auf unsere beste Wurstbude warfen. Normalerweise machen so etwas nur linksextremistische Veganer.

Wer jetzt denkt, ich hätte mir nur ein ­einziges Paar Socken gekauft, hat sich im Übrigen geschnitten. Mein Bauchladen ist so gut gefüllt, dass ich auch dann noch mit warmen Füßen durch die Kälte unserer Zeit marschieren werde, wenn der Weihnachtsmarkt schon abgebaut ist – und zur Abschaffung­ der Menschheit wieder mal ­reichlich Blei vergossen wurde.

Aufrufe: 013.12.2018, 17:45 Uhr
Stuttgarter Nachrichten / Joe BauerAutor