2024-04-25T14:35:39.956Z

Holstein Spezial

Sind die "Störche" zweitligareif?

Holstein Kiel trumpft mit mannschaftlicher Geschlossenheit, Laufbereitschaft und absoluter Fitness auf

„Es ist eigentlich unglaublich, dass wir da stehen. Von der individuellen Qualität her gehören wir auf Platz 8 bis 12 dieser Liga.“ Gesagt hat dies Holsteins Trainer Karsten Neitzel, nachdem seine Mannschaft zwei Wochen lang auf Rang zwei in der 3. Liga stand. Die Frage, ob Holstein Kiel sportlich zweitligatauglich ist, müsste somit einfach zu beantworten sein. Ist sie aber nicht. Denn so wie auch zum jetzigen zweiten Platz mehr gehört als nur individuelle Qualität, gehört auch zu Zweitliga-Reife mehr als nur die Betrachtung der Einzelspieler.

Vorgemacht hat das in eindrucksvoller Manier Darmstadt 98. Die Südhessen waren im Sommer 2013 sportlich in die Regionalliga abgestiegen, hielten dank des Offenbacher Lizenzentzuges die 3. Liga, stabilisierten sich im folgenden Herbst und marschierten im Frühjahr der vergangenen Saison hinter den überragenden Leipzigern und Heidenheimern in die 2. Bundesliga.

„An einigen Stellen gibt es da schon Parallelen“, gibt Holsteins Sportlicher Leiter Ralf Heskamp gerne zu. Auch Darmstadt verfügte nicht über eine individuell herausragende Drittliga-Mannschaft. Selbst Top-Torjäger Stroh-Engel war nach drei Saisontoren für Wiesbaden im Jahr zuvor diese Qualität abgesprochen worden. Von den Darmstädter Stammkräften, die heute sensationell auf dem Sprung in die Bundesliga (!) sind, haben die meisten bereits im Vorjahr für die „Lilien“ gespielt und eine Handvoll schon im eigentlichen Abstiegsjahr.

Zurück zu Holstein: Wenn es also nicht die individuelle Qualität ist, was macht Holstein dann derzeit aufstiegsreif und möglicherweise auch zweitligatauglich?

Da ist zum einen die mannschaftliche Geschlossenheit. So gut wie kaum eine andere Mannschaft schaffen es die Kieler, durch kompaktes Auftreten gelegentliche Schwächen des jeweiligen Nebenmannes zu überdecken. Die herausragende Laufbereitschaft und die absolute Fitness sind die Grundlage dafür. „Holstein ist athletisch die beste Mannschaft der Liga“, stellte Wiesbadens Trainer Marc Kienle unlängst fest. Das allein reicht noch nicht, um Spiele zu gewinnen. Die Bereitschaft, diese körperliche Stärke auch einzusetzen, ist noch wesentlicher für den Erfolg. „Wenn auch nur einer im Spiel gegen den Ball auf einen Laufweg verzichtet, bekommen wir Probleme“, erklärt Holsteins Trainer Karsten Neitzel gebetsmühlenartig.

Die Taktik ist nämlich auf diese körperliche Stärke, die das oft praktizierte frühe Angriffspressing möglich macht, und die Rückwärtswege jedes Spielers ausgerichtet. Wenn der Gegner in Ballbesitz ist, verteidigt Holstein gewöhnlich Mann gegen Mann. In der Viererkette gibt es oft – selbst wenn Gegner mit nur einem Stürmer angreifen – keinen freien Mann. Schon die Stürmer laufen die gegnerischen Innenverteidiger oft mit hoher Intensität an, verfolgen sie im Zweifel aber auch bis an den eigenen Strafraum. Erst wenn ein Kieler ausgespielt ist, muss im Mannschaftsverbund verschoben werden, um die Lücke auszugleichen. Das gelingt Holstein erstaunlich regelmäßig und hat neben der hohen Bereitschaft jedes Spielers auch mit dem guten taktischen Verständnis der meisten Akteure zu tun. Der für einen Außenspieler oftmals offensiv (zu) unauffällige Tim Siedschlag ist vielleicht das beste Beispiel dafür, der oft entstehende Gefahrenräume einfach situativ erkennt.

Diese Qualitäten sind bei nahezu allen Spielern zweifelsohne schon jetzt zweitligareif. Das heißt natürlich nicht automatisch, dass Holstein schon jetzt in der 2. Bundesliga bestehen würde. Sicher allerdings ist, dass die Kieler auch heute schon für jeden Zweitligisten ein sehr unangenehmer Gegner wären. Es ist letztlich die größte Qualität, die auch die eigangs erwähnten Darmstädter auszeichnet.

Nichtsdestotrotz müsste und würde sich Holstein natürlich im Fall des Aufstiegs verstärken. Aus der jetzigen Stammelf verfügen nur der schon 32-jährige Linksverteidiger Patrick Kohlmann (142 Spiele für Union Berlin), Stürmer Manuel Schäffler (119 Spiele für 1860, Duisburg und Ingolstadt) und der ebenfalls bereits 32-jährige Kapitän Rafael Kazior (55 Spiele für Duisburg und Burghausen) über nennenswerte Zweitliga-Erfahrung. Defensivmann Manuel Hartmann (106 Spiele für Koblenz und Ingolstadt) gehört ebenfalls dazu, ist derzeit aber nur noch Ersatz. Kazior verlässt die Störche im Sommer Richtung Bremen. Routinier Fiete Sykora (78 Spiele für Jena, Aue und Osnabrück) wird die für die beschriebene Spielweise nötige körperliche Verfassung nicht mehr erreichen und wohl keinen neuen Vertrag erhalten. Der ausgeliehene Saliou Sané (9 Spiele für Paderborn) und Regisseur Maik Kegel (12 Spiele für Dresden) schafften in ihren ersten Zweitliga-Anläufen den absoluten Durchbruch nicht.

Diesen beiden wäre – wie auch Kenneth Kronholm, Patrick Breitkreuz, Marc Heider, Patrick Herrmann, Marlon Krause, Tim Siedschlag, Mikkel Vendelbo, Hauke Wahl, Fabian Wetter und Finn Wirlmann – ohne Wenn und Aber zuzutrauen, in der 2. Bundesliga mitzuspielen. Einige werden sich weiter gut entwickeln. Tragende Rollen werden sie indes nicht alle einnehmen können.

Mit Ausnahme der Torhüterposition müsste sich Holstein in allen Mannschaftsteilen über Verstärkungen Gedanken machen. „Wir beschäftigen uns derzeit mit Spielern, die hohes Drittliga-Niveau bereits nachgewiesen haben und denen wir Potenzial für die 2. Liga zutrauen“, erklärte Heskamp unlängst. Sollte es mit dem Aufstieg klappen, wird es dabei nicht bleiben. „Dann würde der Etat weitere Möglichkeiten hergeben“, sagt Heskamp und meint damit zwei bis vier zusätzliche Akteure mit zumindest Zweitliga-Erfahrung.

Ganz abgesehen davon, dass kleine Lücken geschlossen werden müssen – so steht seit einem Jahr nur ein gelernter Rechtsverteidiger im Kader und es gibt Bedarf an einem echten linken Außenbahnspieler – ist die Position der Neuen dabei fast zweitrangig. Sie müssen vor allem die individuelle Qualität erhöhen, um den Duellen Mann gegen Mann auch eine Klasse höher regelmäßig standhalten zu können und im Spiel nach vorn für neue Überraschungsmomente zu sorgen. Darüber hinaus ist die Einstellung der wohl wichtigste Punkt. Nur wer sich auch in das funktionierende Gefüge einordnen kann und will, wird es auch verstärken können. Um mit hochbegabten Diven oder auch einfach mit ausgeprägten Individualisten zweitligatauglich zu werden, wäre der Weg zu Zweitliga-Reife weit, für Holstein eindeutig zu weit.

Das zeigt derzeit das Beispiel Leipzig. Im Gegensatz zu Darmstadt ist beim zweiten Aufsteiger des Vorjahres zwar die ohnehin hohe individuelle Qualität noch einmal erheblich gesteigert worden, nicht aber das geschlossene Auftreten. Das reicht, um hinter deutlich schwächere Darmstädter Einzelspieler zurückzufallen. Trotz riesiger Investitionen, die im Gegensatz zu früheren Jahren auch zum größten Teil nachvollziehbar waren, wird die RB-Truppe den Durchmarsch wohl nicht schaffen.

Der Weg für Holstein ist im Aufstiegsfall vorgezeichnet. Zweitliga-Reife ist ohne Zweifel zu erreichen, wenn im Sommer einige richtige Entscheidungen getroffen werden – vor allem aber keine falschen, die das Gefüge durcheinander bringen. Natürlich wird auch auf Trainer Neitzel Arbeit zukommen, der plötzlich einigen Spielern mehr als derzeit erklären muss, dass sie nicht spielen und dennoch für den weiteren Weg wichtig sein werden.

Auch wenn das alles gelingt, heißt das natürlich nicht, dass man vom Darmstädter Erfolgsweg ausgehen oder auch nur träumen darf. Aber eine solide Perspektive kann Holstein Kiel sich eine Klasse höher erarbeiten. Abstiegskampf natürlich nicht ausgeschlossen. Die erfolgreiche Bewältigung wäre der übernächste Schritt auf der Leiter, die die „Störche“ seit 2010 Saison für Saison in mal kleineren, mal größeren Schritten hinaufklettern. Zunächst mal muss aber der nächste gemacht werden. Es wäre der zweite in dieser Saison und einer, der eigentlich noch gar nicht vorgesehen war: die Rückkehr in die 2. Bundesliga.

Aufrufe: 01.4.2015, 16:10 Uhr
SHZ, Christian JessenAutor