2024-05-02T16:12:49.858Z

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Majid Cirousse
Majid Cirousse – Foto: Karl-Heinz Rickelmann

"Sperren sind genau der falsche Weg"

JETZT IM AUSFÜHRLICHEN INTERVIEW: Trainer Majid Cirousse über Fußball mit Migrantenteams, Opfer-Denken und den Hitlergruß

Der Vater Perser, die Mutter Griechin, aufgewachsen in Deutschland: Majid Cirousse kennt Einflüsse und Eigenheiten verschiedener Kulturen, Religionen und Weltanschauungen auf unser tägliches Zusammenleben. Im Interview spricht der Fußballtrainer über seinen Weg, die Dinge bestmöglich zusammenzubringen. Als Rechtsbeistand des Spielers, der beim Vetter-Cup den Hitlergruß gezeigt hat, sagt er zudem seine Meinung, wie mit solchen Vorfällen umgegangen werden sollte.

Herr Cirousse, 31 Siege in 32 Spielen: War für Sie als Trainer der Bezirksliga-Aufstieg mit dem SC Türkgücü in der vergangenen Saison ein Selbstläufer?

Alles andere als das. Wir hatten 2018/19 ein sehr schönes Jahr, keine Frage, aber dennoch ständig große Herausforderungen zu bewältigen. Es galt ja nicht nur, aus vielen Fußballern, die für die Stadt-Kreisliga eigentlich zu gut sind, ein Team zu formen. Sondern auch, diese starken Charaktere, wie ich es nennen will, zu bändigen und unter einen Hut zu bringen. Von unseren 30 Spielern damals würde ich 25 als starke Charaktere bezeichnen. Sie durch jene Saison zu steuern, ist rückblickend betrachtet, gut gelungen.

Wie genau?

Mir als Trainer ist wichtig, die Jungs dazu zu bringen, dass sie sich untereinander coachen und selbst in die richtige Spur lenken. Dass sie mitdenken, auf aber vor allem auch abseits des Platzes. Meine Spielansprachen kreisen daher nicht nur um Fußball, sondern auch um das Alltagsleben, wo ich für ehrlichen Umgang miteinander werbe und allen Hilfe anbiete, aber gleichermaßen erwarte, dass die Jungs sich gegenseitig unter die Arme greifen. Drei bis fünf Führungsspieler mit Autorität helfen natürlich dabei, solche Werte durchzusetzen. Wie in unserem Fall Spieler wie Adem Ulusoy ,Felix Sydikum oder Süleyman Saglam.

Dennoch lässt sich die Ferndiagnose stellen, dass mit dem Ausbleiben des sportlichen Erfolgs in der höherklassigen Bezirksliga das Team seit Sommer Stück für Stück auseinanderbrach…

Das aber nur auf fehlende Siege zu reduzieren, ist mir zu einfach. Ich persönlich kann auch nur über die Zeit sprechen, in der ich noch Trainer war – und da muss ich so ehrlich sein, zuzugeben, dass ich die Bezirksliga-Saison niemals als Coach hätte angehen dürfen. Meine Arbeitsbelastung ist zuletzt stark gestiegen, mein Vater ist zu jener Zeit krank geworden und brauchte meine Zeit. Dazu hatte der Abgang von Ozan Koc als SCT-Präsident dafür gesorgt, dass ich den bis dahin guten Draht zum Vorstand verloren habe. Das hat zuvor etablierte Teambuilding-Aktionen abseits des Platzes wie gemeinsame Essen erschwert.

Nach Ihnen haben viele Fußballer bei Türkgücü aufgehört und sich nun anderen Klubs angeschlossen. Die verbleibenden Spieler haben beim prestigeträchtigen Vetter-Cup den Finaltag verpasst, bei dem Türkgücü zuletzt immer Stammgast war. Als sich das Zwischenrunden-Aus abzeichnete, ist die Lage komplett eskaliert in Schubsereien, Drohungen und der Hitlergruß-Aktion in Richtung der Zuschauer.

Ich selbst war an jenem Tag nicht in der Halle. Aber der Spieler, der den Hitlergruß gezeigt haben soll, rief mich danach an. Wir haben privat ein gutes Verhältnis, er hat mich um Hilfe gebeten, etwa bei juristischen Fragen. Was ich sagen kann: Auch er ist sich bewusst darüber, dass so eine Aktion gar nicht geht. Aber ich sage auch: Jeder in Deutschland hat das Recht auf ein faires Urteil bzw. Verfahren, bei dem alle Umstände frei von Vorurteilen beleuchtet werden.

Welche mildernden Umstände kann man in solch einem Fall anführen?

Für die Aktion selbst - wenn sie denn so stattgefunden hat - gibt es keine Entschuldigung. Aber wir müssen verstehen lernen, wie es zu solchen Aktionen kommen kann. In meiner Zeit beim SC Türkgücü habe ich immer wieder erlebt, wie meine Jungs an Grenzen stoßen, was gesellschaftlicher Teilhabe angeht. Zum Beispiel, wenn es darum geht, eine Wohnung zu finden, aber Vermieter Bewerber mit Migrationshintergrund grundsätzlich ablehnen. Daran tragen die Jungs vielleicht auch zum Teil eine Mitschuld durch ihr Verhalten, zum Teil liegt aber die Schuld sicher nicht nur bei den Jungs. Obwohl die meisten bereits in der dritten Generation hier leben, bleiben sie von gewissen Dingen ausgeschlossen. Das sorgt für Frust im Alltag. Der sorgt dafür, dass sie sich - nur von Emotionen getrieben - zu Dingen hinreißen lassen, die keiner sehen will, wie beim Vetter-Cup.

Beim Staffeltag der Stadtfußballer kam jüngst der Vorschlag, man solle solche Täter einfach für alle Zeiten vom Fußball ausschließen.

Für mich ist das genau der falsche Weg. Vielleicht hat dann der Fußball kurz ein Problem weniger – aber sicher nicht die Gesellschaft. Es macht ja genauso wenig Sinn, Straftäter nur wegzusperren: Irgendwann kommen sie aus dem Gefängnis wieder raus, das Problem kommt also wieder. Ich würde mir daher auch von den Sportgerichten wünschen, dass sie Tätern neben einer Sperre andere Dinge auferlegen. Warum lassen wir Menschen, die Schiedsrichter angegangen sind, nicht mal selbst Spiele pfeifen, damit sie aus eigener Erfahrung merken, wie schwierig das ist? Oder sie erhalten als Auflage, als Co-Trainer bei einer Jugendmannschaft mitzuhelfen. Denkbar sind auch Nachweise von Anti-Aggressions-Trainings oder Arbeitsstunden im sozialen Bereich, um die Dauer einer Sperre zu verkürzen. Über solche Wege haben wir eine Chance, diese Leute weiter mitzunehmen und mit ihnen sowie an ihnen zu arbeiten.

Kann man wirklich an Leuten arbeiten, die zum Beispiel pauschal sagen: Deutsche Schiedsrichter geben mir allein deshalb gern Rot, weil ich Türke bin?

Natürlich, das müssen wir und das haben wir gemacht, jeden Tag. Ich habe meinen Jungs immer gesagt: Wir müssen aus dieser Opferrolle raus. Wir müssen uns klar machen: Nicht jeder, der vielleicht auch mal unberechtigt ein Foul gegen uns pfeift, ist gleich ausländerfeindlich. Diese Arbeit war ein krasser, anstrengender Lernprozess.

Wie verbreitet ist dieses Opfer-Denken?

Leider durchaus verbreitet – übrigens längst nicht nur bei Fußballern mit Migrationshintergrund. Als uns einmal ein türkischer Schiedsrichter einen umstrittenen Elfmeter gab, führte das der Trainer eines vor allem von deutschen Spielern geprägten Kreisliga-Gegners laut schimpfend auf die Nationalität des Referees zurück. Das zeigt: Das Einnehmen einer solche Opferrolle hilft im Fußball niemandem. Sie lenkt vom reinen Spiel elf gegen elf ab - und sie schürt Rassismus, auf allen Seiten. Ich will aber auch nicht unerwähnt lassen, dass es Migrantenteams nicht immer leichtgemacht wird, diese Opferrolle abzustreifen.

Wieso?

Einmal zum Beispiel hat ein Schiedsrichter zu einem unserer Spieler, der gelbwürdig gefoult worden ist und das monierte, gesagt: „Sei froh, dass ich für Dich überhaupt ein Foul pfeife.“ Das kann aus dem Affekt heraus passiert sein. Das kann genauso auf die - auf den Erhalt von Freistößen ausgelegte - Spielweise des Spielers gemünzt gewesen sein. Es ist aber eine höchst unglückliche Aussage, die nicht dazu beiträgt, dass so ein Spieler glaubt, er werde genauso behandelt wie alle anderen. Noch schlimmer ist, wenn Fußballer tatsächlich rassistisch beleidigt werden wegen ihrer Hautfarbe oder Nationalität, was ich leider auch erleben musste bei meinen Jungs.

Was können wir alle gegen die Verrohung der Sitten auf dem Fußballplatz tun?

Wir alle müssen uns bewusstmachen, dass Fußball mehr ist als zweimal die Woche Training plus Spiel mit Sieg oder Niederlage. Wir sollten viel mehr miteinander sprechen. Vereine haben auch eine gesellschaftliche Verantwortung, die da heißt: Wir nehmen jeden mit, auch die Schwächsten unter den Mitgliedern. Wir grenzen nicht direkt aus, wenn sie mal totalen Mist bauen, sondern wir gehen auf sie und das Problem ein. Solch ein Prozess ist anstrengend, es wird Rückschläge geben – und mir ist klar, dass in unseren hektischen Zeiten Vereine oft überfordert sind, weil das Geld und geeignete Personen fehlen. Da ist auch die Politik gefragt. Genauso aber sollte jeder einzelne versuchen, seinen Beitrag zu leisten.

Wie?

Beim SV Kosova will ich meine Jungs dazu bringen, mehr soziale Verantwortung zu übernehmen. Wir werden einer Osnabrücker Hilfseinrichtung ein Kontingent an Arbeitsstunden zusagen, weil ich glaube, dass die Arbeit mit behinderten Menschen erdet und dadurch jedem klar wird, wie gut es uns eigentlich geht – egal ob wir dort Frühstück machen oder einfach den Keller ausräumen. Ich bin selbst gespannt, wie viele meiner 25 Jungs ich damit catchen kann. Ziel ist auf jeden Fall, das Bewusstsein für folgenden Gedanken zu steigern: Fußball ist cool – aber längst nicht das allerwichtigste.

Was denken eigentlich die Schiedsrichter über die aktuellen Entwicklungen? Jetzt reinhören unter noz.de/Bolzplatzultras

Aufrufe: 011.2.2020, 08:00 Uhr
Benjamin Kraus / NOZ SportAutor