2024-04-25T14:35:39.956Z

WM 2014
Von Schotten über Gießen in Rio de Janeiro gelandet: Juliane Gerhards. Foto: Schäfer
Von Schotten über Gießen in Rio de Janeiro gelandet: Juliane Gerhards. Foto: Schäfer

Mit zwei Trikots im Gepäck zum Klassiker

GESCHICHTE Ehemalige Gießener Tennispielerin Juliane Gerhard fiebert in Wahlheimat Brasilien mit

RIO DE JANEIRO - Ein Halbfinale zwischen Wahl-Heimat und Heimatland ist „legendär“, sagt Juliane Gerhard mit Blick auf das heutige WM-Duell in der Vorschlussrunde zwischen Brasilien und Deutschland in Belo Horizonte.

„Zu wem ich halte, kann ich nicht sagen. Es werden zwei Herzen in meiner Brust schlagen. Und es wird sehr emotional, weil ich weiß, wie wichtig Fußball und die WM im eigenen Land für die Brasilianer sind“, erklärt sie. Die 37-Jährige ist in Schotten aufgewachsen, schwang aber einst für den TC RW Gießen den Tennisschläger. Seit 2008 lebt sie nun schon in Rio de Janeiro.

Nach dem Abitur und mehreren Auslandsaufenthalten in Paris, San Francisco und Buenos Aires hatte die Diplom-Kauffrau für die Zeit nach ihrem Studium einen großen Traum. „Ich wollte nach Südamerika und dort für zwei bis drei Jahre arbeiten, denn das Leben in Argentinien hatte mich gepackt. Ich weiß nicht wieso, aber ich hatte schon bei meinem ersten Besuch eine emotionale Bindung“, erzählt Gerhard. Ihr Traum hat sich erfüllt: 2006 kam sie für einen Anbieter von Geoinformationsdienstleistungen zum ersten Mal nach Brasilien. Sie analysierte den Markt und knüpfte erste Kontakte. Ende 2007 begann das Premieren-Projekt für den brasilianischen Ölkonzern Petrobras im Amazonas. Wenige Monate später gründete sie eine Niederlassung am Zuckerhut und lieferte den Kunden fortan hochgenaue Planungsdaten unter anderem für den Bau von Ölpipelines oder das Monitoring von Favelas. Heute leitet Gerhard ihre eigene Firma. Sie berät und führt Ingenieursprojekte durch, in der hauptsächlich deutsche Technologien eingesetzt werden.

Im Berufsalltag kommen der Schottenerin, deren Großeltern aus Gießen und Fernwald stammen und deren Eltern sich an der Justus-Liebig-Universität kennengelernt haben, ihre Wurzeln zugute. „Ich spüre, dass mir besonderer Respekt entgegengebracht wird – vor allem im Arbeitsleben. Ich vermute, ein entscheidender Grund dafür ist meine Herkunft aus Deutschland“, sagt sie. Schwarz-Rot-Gold steht hoch im Kurs – nicht nur im Fußball.

In den sieben Jahren in Südamerika hat Gerhard die Lieblingssportart der Brasilianer für sich entdeckt. Das Interesse daran hilft Gerhard auch beruflich weiter. „Wenn man ein Meeting erst mal mit Fußballthemen anfangen kann, ist das schon die halbe Miete“, sagt sie und lacht. Vom Sport habe sie schon immer profitiert. Auch die Zeit beim TC Rot-Weiß habe sie geprägt. „Sie hat mir gezeigt, dass Ehrgeiz und Disziplin wichtig sind“.

Gleichermaßen wichtig ist Geduld – zumindest in Rio. „Es nervt schon manchmal, dass Dinge wie Telefon oder Internet nicht immer funktionieren, dass alles viel länger dauert und dass die Bürokratie so groß ist“, erzählt sie. In Deutschland könne man Sachen einfach schneller erledigen. Dramatisch sei das aber nicht, meint Gerhard. Längst hat sie sich an den brasilianischen Lebensstil gewöhnt und toleriert ihn. „Ich rege mich schon lange nicht mehr auf, wenn Leute zu spät sind oder in letzter Minute absagen.“

Nach einer behüteten Kindheit in Schotten genießt Gerhard das Leben in Rio. „Ich fühle mich sehr wohl und bin gesellschaftlich sehr gut integriert“, sagt sie. Ihr brasilianischer Lebensgefährte trägt dazu natürlich bei. Aus diesem Grund kann sie sagen: „Außer meiner Familie und meinen Freunden vermisse ich nichts.“

Nach längerem Überlegen fallen ihr aber doch zwei Dinge ein: „Manchmal vermisse ich die Jahreszeiten. Der Winter in Deutschland kann auch schön sein“. Und: „Mir ist zwar hier noch nie etwas passiert, aber in Deutschland fühle ich mich sicherer.“ Das merkt Gerhard immer dann, wenn sie in der Heimat ist und die Anspannung abfällt. „In Rio muss man immer wachsam sein, wenn man sich auf der Straße bewegt. In Deutschland bin ich entspannter.“

Gute Atmosphäre vor Ort

Zurzeit genießt Gerhard die WM-Stimmung. Die schlechte Atmosphäre, die Proteste und die Angst vor Ausschreitungen hätten sich aufgelöst. „Ich habe das Gefühl, dass die Brasilianer Politik und Sport trennen und deswegen auch feiern können“, sagt sie. Für das Halbfinale zwischen Deutschland und Brasilien bemüht sich Gerhard um Karten. „Ich will mit meinem Freund auf jeden Fall hin. Bisher habe ich alle Deutschland- und alle Brasilienspiele geschaut, jeweils im richtigen Trikot“, erklärt sie. In Belo Horizonte wird sie heute beide Jerseys tragen müssen.

Aufrufe: 08.7.2014, 10:01 Uhr
Marc SchäferAutor