2024-05-02T16:12:49.858Z

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„Der Videobeweis macht den Fußball gerechter“

Ex-Fußball-Bundesliga Schiedsrichter im Interview

Der Ex-Fußball-Bundesliga-Schiedsrichter Lutz Wagner (54) steht im Hollerner Hof in Hollern-Twielenfleth vor Unparteiischen und redet über den Fußball und knifflige Entscheidungen. Was Wagner Schiedsrichtern mit auf den Weg gibt, erzählt er im Interview.

Wagner motiviert, Wagner ist witzig, gestenreich und schlagfertig. Seine wichtigsten Tipps für die Schiris aus der Region: Nie überheblich sein, Vorbild sein, nicht jedem Spieler die Welt erklären und immer sicher auftreten im Falle der totalen Ahnungslosigkeit. Denn Fußballer seien wie Patienten: Kassenpatienten und Privatpatienten. Letztere gelte es zu erkennen und auch besonders zu behandeln.

Herr Wagner, können Sie sich an Ihr erstes Spiel erinnern, das Sie gepfiffen haben?

Das vergesse ich nicht. Das war ein D-Jugend-Spiel. Ich war sehr aufgeregt. Zum Schluss wusste ich gar nicht mehr, ob es 2:0 oder 3:0 ausgegangen ist und habe dann noch einmal nachgefragt.

Wie alt waren Sie damals?

Ich war 14. Ich habe aber parallel immer noch Fußball gespielt. Es ist wichtig, dass man den Kontakt zum Fußballspielen nicht verliert.

Sind Fußballer also die besseren Schiedsrichter?

Es gehören zwei Sachen dazu. Generell sollte man das, was man macht, gern machen. Man sollte den Fußball lieben. Man sollte die Regeln von der Fußballseite angehen, also nicht von der Theorie auf die Praxis kommen, sondern umgekehrt. Natürlich hat jemand, der gespielt hat, den Vorteil, die Abläufe besser zu kennen. Er muss gar nicht hochklassig gespielt haben. Das ist der eine Teil. Zum anderen kommt natürlich viel über die Erfahrungswerte. Du reifst, je mehr Spiele du leitest. Ich glaube, man braucht beides. Den Fußballsachverstand als Spieler, aber auch die speziellen Dinge, die ein Schiedsrichter im Laufe der Zeit bei seinen Einsätzen lernt.

Wie motivieren Sie junge Leute, Schiedsrichter zu werden?

Junge Schiris wachsen ja nicht auf Bäumen.Als Schiedsrichter lernst du auch viel fürs Leben. Selbstvertrauen entwickeln, sich durchzusetzen, sich andererseits auch einmal unterzuordnen, Verantwortung zu übernehmen, letztendlich zu seiner Entscheidung zu stehen und sie auch zu vertreten. Außerdem stehen Schiedsrichter jeden Sonntag woanders auf dem Platz. Sie haben ja quasi nur Auswärtsspiele und lernen viele neue Orte und neue Menschen kennen. Das ist ein sehr interessanter Job. Und der Job prägt.

Wann sollte ein Schiedsrichter anfangen?

Es ist immer gut, früh anzufangen. Dann kann man schnell Erfahrung sammeln. Die Landesverbände haben da verschiedene Regelungen. In dem einen können die Schiedsrichter mit 12 Jahren starten, in anderen ab 14. Aber ob mit 12, 14 oder 16 - wichtig ist, dass er dabei bleibt. Auch jemand, der nach Abschluss seiner Spielerkarriere mit dem Pfeifen beginnt, ist sehr gern gesehen.

Wie wichtig ist eine Bibiana Steinhaus, um mehr Mädchen als Schiedsrichterinnen zu gewinnen?

Ganz wichtig. Bibiana ist für uns der ideale Werbeträger. Sie hat gezeigt, dass man es mit Leistung schaffen kann. Unabhängig vom Geschlecht. Es war auch immer ihr Bestreben, nicht aufgrund einer Quote in die Bundesliga zu kommen, sondern aufgrund einer Leistung.

Gibt es denn einen Zuwachs von jungen Schiedsrichterinnen?

Mit Sicherheit hat die Anzahl der Schiedsrichterinnen zugenommen. In Deutschland pfeifen derzeit regelmäßig über 50000. Davon sind ungefähr 3000Frauen. Eine Quote, die man aber noch steigern kann.

Hat sich der DFB dabei Ziele gesetzt?

Wir freuen uns über jede Frau. Wir zeigen ihr, dass sie die gleichen Chancen hat, wie ein Mann. Das ist wichtig. Wir haben neben Bibiana Steinhaus noch weitere gute Schiedsrichterinnen. Riem Hussein, die dritte Liga pfeift, Katrin Rafalski, die Assistentin in der zweiten Bundesliga ist. Das sind natürlich Zugpferde. Die helfen mehr, als das beste Plakat oder der beste Flyer.

Jugendfußball ist das Stichwort. Eltern drehen am Spielfeldrand durch. Es war einmal eine Art Bannmeile für Eltern im Gespräch. Ist das noch Thema?

Gewisse Landesverbände spielen die Fairplay-Liga. Aber wenn wir mal ehrlich sind, bekämpfen wir damit nur die Auswirkungen dieser Unarten. Eigentlich müssten sich die Eltern über ihren Vorbildcharakter im Klaren werden. Dass sie eben nicht gesteigerten Ehrgeiz in ihre Kinder setzen und sich entsprechend benehmen. Da fehlen einem manchmal die Worte. Das kann für junge Schiedsrichter zum Problem werden. Die hören nicht auf, weil Fußball ihnen keinen Spaß mehr macht. Die hören auf, weil sie mit den Umständen auf den Sportplätzen nicht zurechtkommen. Jetzt stellen wir dem jungen Schiedsrichter einen Paten an die Hand. Der Pate begleitet ihn in den ersten Spielen und federt das von außen ein wenig ab. Aber so gut wie diese Aktion ist, am besten wäre natürlich, wenn sich die Beteiligten besser benehmen würden, mehr Respekt vor dem Schiedsrichter und mehr Verständnis hätten. Der Schiri fängt genauso an wie ein junger Spieler.

Muss ein Schiedsrichter ein dickes Fell haben?

Es ist mit Sicherheit nicht hinderlich. Man muss bei der Kritik genau unterscheiden. Ist es sachlich, fachliche Kritik, dann ist das prima. Die bringt einen weiter. Ist es einfach nur Polemik von jemandem, der keinen Bezug zur Sache hat, sollte man es schnell wegstecken. Zu sensibel darf ein Schiedsrichter nicht sein. Auf dem Fußballplatz fällt eben mal das ein oder andere Wort. Wer das nicht abkann, hat schon Schwierigkeiten.

Können Sie sich an eine Szene erinnern, die Sie lange mit sich herumgeschleppt haben?

Wenn ich einen Fehler gemacht habe, der einen persönlichen Nachteil für den Spieler oder einen Nachteil für den Verein zur Konsequenz hatte, tat mir das unwahrscheinlich weh. Auch Schiedsrichter leiden unter Fehlentscheidungen. Wenn das Auswirkungen hat, stecken die das nicht so einfach weg. Ich habe ja den Anspruch, es möglichst gerecht zu machen.

Welche war denn Ihre größte Fehlentscheidung?

(lacht) Wenn wir damit anfangen, machen wir ein Interview über zwei Stunden. So habe ich mal einen Spieler zu unrecht vom Platz gestellt. Aber das kann man nicht an einer Einzelentscheidung festmachen. Es gibt eigentlich kein fehlerfreies Spiel. Irgendwas ist immer nicht in Ordnung. Man kann nur froh sein, wenn es nichts Entscheidendes war.

Gibt es ein Spiel, das Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?

Meistens hat das nichts damit zu tun, ob es ein bedeutendes Spiel war oder nicht. Vielmehr hat das etwas mit Menschen zu tun. Ich habe mal ein Spiel gepfiffen ohne Zuschauer, das einzige Bundesliga-Spiel in Deutschland, das jemals ohne Zuschauer stattgefunden hat. Das war ein Wiederholungsspiel zwischen Aachen und Nürnberg. Das war eine Geisterkulisse. So viele Fernsehzuschauer hatten wir noch nie. Aber im Stadion herrschte gespenstische Stimmung. Dann habe ich erstmal gemerkt, wie schön es ist, wenn ich beschimpft werde. Ich habe zum Beispiel das erste Spiel nach dem Freitod von Robert Enke gepfiffen. Das war eine ganz bedrückende Situation. Alle spielten mit der Nummer 1. Man konnte sich nicht freuen. Fußball kann manchmal ganz unwichtig werden. Auf der anderen Seite hatte ich auch schöne Erlebnisse. Zum Beispiel das Endspiel um die koreanische Meisterschaft in Seoul, in einem ganz anderen Land, in einer ganz anderen Kultur.

Natürlich müssen wir zum Schluss noch über den Videobeweis reden. Was halten Sie persönlich davon?

Ich bin für den Videobeweis, weil ich glaube, dass er den Fußball gerechter macht. Wir müssen ihn sinnvoll anwenden und wir müssen ihm vor allem am Anfang eine Chance geben. Wenn etwas neu eingeführt wird, klemmt es natürlich auch mal in der Testphase. Wir sollten aber das Positive sehen. Dreiviertel der Entscheidungen, die sonst falsch gewesen wären, wurden durch den Videobeweis positiv gestaltet.

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Aufrufe: 08.2.2018, 18:24 Uhr
Tageblatt / Von Daniel BerlinAutor