2024-05-10T08:19:16.237Z

Interview
Hermann Gerland (l.) und Jochen Sauer. F: sampics
Hermann Gerland (l.) und Jochen Sauer. F: sampics

Gerland und Sauer im Interview: "Talente sind keine Aktien"

Nachwuchs-Chefs des FC Bayern stehen Rede und Antwort

Gerland und Sauer über den FC Bayern Campus, ihr internationales Spektrum, Barcelonas La Masia und Zirkusartisten

Hermann Gerland (63) und Jochen Sauer (45) nehmen zum Interview in der Lounge Platz, von der aus sie im Stadion des FC Bayern Campus die Junioren-Spiele beobachten. Das Duo, der eine als sportlicher Leiter, der andere als Geschäftsführer, soll dafür sorgen, dass wieder mehr eigene Talente zu den Profis durchkommen.

Sie beide sind sechs Wochen hier – sind Sie mit der Anfangsphase zufrieden?

Gerland: Sehr zufrieden. Wenn ich die Anlage sehe, alles ist überragend. Nur hat das nichts zu sagen. Wir müssen Leistung bringen, wir müssen die Spieler von der Ingolstädter an die Säbener Straße bringen und hier vorne in die Allianz Arena. Das ist unsere Aufgabe.

Die Baukosten betrugen rund 70 Millionen Euro, die Erwartungen sind groß. Spüren Sie als Führungs-Duo einen besonderen Druck?

Gerland: Ich hatte mein ganzes Leben lang Druck. Als ich Spieler war, hatte ich Riesendruck, nicht abzusteigen. Als Coach war der Druck noch größer. Ich bin nun im 22. Trainer-Jahr, wobei sich die Aufgaben verschoben haben. Ich freue mich jeden Tag, wenn ich unsere Talente sehe. Bei dem einen oder anderen denke ich: Na, aus dem könnte ein Großer werden! Die Zeit wird es zeigen. Schaffen wir es nicht, haben wir Fehler gemacht.

Sauer: Ich sehe es als Herausforderung. Wenn man sieht, dass heute im Profi-Bereich für Spieler 60 oder 70 Millionen Euro bezahlt werden, hätte ich als Sportdirektor wahrscheinlich mehr Druck als mit diesem Campus für 70 Millionen.

Gab es Vorbilder, sind Sie in Europa herumgereist? La Masia in Barcelona wird oft als stilbildend zitiert.

Sauer: Es wurden Nachwuchsleistungszentren in Deutschland und Europa angeschaut, etwa in Hoffenheim, Leipzig und Wolfsburg. Es war Fakt, dass das Jugendhaus an der Säbener Straße nicht so weiterentwickelt werden konnte, wie es andere Bundesligisten mit ihren Nachwuchsleistungszentren gemacht haben. Da waren andere schneller. Wenn Sie La Masia als Vergleich nehmen: Die Inhalte sind dort wichtiger als die Infrastruktur. Was da geleistet wird, kann ein Vorbild sein, vor allem bei der Kontinuität. Trotzdem werden wir keine Kopie von La Masia sein.

Was ist hier ein Alleinstellungsmerkmal?

Sauer: Andere haben zwar auch kleine Stadien, aber dass wir unseres direkt auf dem Campus haben, 20 Meter neben der Akademie, ist deutschlandweit einzigartig. So ein Schmuckkästchen ist wohl in ganz Europa schwer zu finden.

"Wir ergänzen uns"

Herr Gerland, Sie sagten bei der Einweihung: „Ich bin der Klopper, Sauer der Stratege.“ Wie spiegelt sich das im Alltag wieder?

Gerland: Jochen ist auf seinem Gebiet ein Top-Mann. Wenn ich ein Talent sehe, das passt, sage ich: Ich möchte, dass wir uns um diesen Spieler bemühen. Das ist Jochens Sache.

Sauer: Ich kriege in Gesprächen mit Eltern, Beratern, den Jungs Dinge raus, die man auf dem Platz nicht sieht. Hermann sieht Dinge, die ich in Gesprächen nicht herausfinden kann. Wir ergänzen uns.

Wird der FC Bayern in Zukunft mehr Geld in Talente investieren?

Gerland: Ja. Sonst klappt es nicht. Früher hat ein Profi eine Million gekostet und ein Talent 5000 Euro. Jetzt kostet ein Profi 50 Millionen, da muss man auch mehr für Talente zahlen.

Man hat inzwischen den Eindruck, Fußballtalente werden wie Aktien gehandelt. Oft entwickeln sie sich nicht wie gewünscht . . .

Sauer: Wir werden nie ein Talent nur holen, weil wir im Hinterkopf haben, dass wir den Jungen dann zwei Jahre später für mehr Geld verkaufen können. Talente sind keine Aktien. Ich erwarte aber auch bei den Talenten steigende Preise. Wobei es schon den Unterschied gibt, dass man sich bei einem Talent immer des Risikos bewusst ist. Die Unsicherheit über die Entwicklung wird sich weiter in den Preisen spiegeln. Dass mal ein 15-Jähriger 20 Millionen Euro kostet, wird meiner Meinung nach nicht passieren. Da wird das Risiko, zu scheitern, zu groß. Utopische Preise kann ich mir im Bereich der sehr jungen Spieler nicht vorstellen.

Sie haben den Hachinger Philipp Herrmann, den Luxemburger Ryan Johansson und einen Südkoreaner, schwer aussprechbar . . .

Sauer (in astreiner Aussprache): Wooyeong Jeong. Der Mix zeigt, wie sich das Spektrum in der Zukunft auffächert. Die Basis ist hier: München, Bayern. Wir brauchen Identifikationsfiguren. Aber für ganz oben schauen wir bei Einzelfällen in alle Richtungen. Wobei immer rein sportliche Beweggründe im Vordergrund stehen. Selbst Top-Talente in China genießen mit 14, 15 aktuell noch nicht diese Ausbildung, dass es viele in die europäischen Topligen schaffen. Wir haben eher Europa im Blick, die USA sind im Kommen, Korea entwickelt sich spannend.

In der aktuellen U 15 haben Sie acht Spieler bei den DFB-Junioren. Gehen Sie eine Wette ein, dass einer davon in vier Jahren bei den Bayern-Profis spielt?

Gerland: Ja, gehe ich. Ich will den Jungs keinen Druck machen. Aber das sind wirklich herausragende Spieler, die spielen sensationellen Fußball. Ich glaube sogar, dass es zwei von denen schaffen.

Sauer (schmunzelt): Da widerspreche ich nicht.

Gibt es einen Karriereplan für jeden Einzelnen?

Sauer: Daran arbeiten wir. Die sportliche Kluft von der U23 bis zu den Profis ist über die Jahre immer größer geworden. Unsere Aufgabe ist es, Lösungen zu finden. Da gibt es kein Patentrezept, wir müssen Strategien entwickeln: Leihmodelle etwa, Kooperations-Modelle, auch eine starke U 23 im oberen Drittel der Dritten Liga.

Gerland nennt das Beispiel Misimovic

Lucas Scholl klagte: „Der Druck bei Bayern hat mich fertig gemacht.“ Muss man Seelenstreichler sein?

Gerland: Sie wissen ja, wie ich immer war – und Sie wissen, was herausgekommen ist. Fürs Streicheln sind die Mädels zuständig (lacht), und ich bin nicht der Typ, der auf Wehwehchen pustet. Ich erinnere mich an Zvjezdan Misimovic. Der wollte weg, hatte ein paar komische Angebote. Ich sagte ihm: Tu’ mir einen Gefallen! Gib’ mir ein Jahr, dann bringe ich dich in die Bundesliga! Er hat mir vertraut – und dann war er bei Bochum, Nürnberg, wurde in Wolfsburg Meister.

Für welchen Fußball soll die Bayern-Jugend stehen?

Gerland: Offensivfußball. Bayern muss das Spiel machen, immer. Überall, egal wo. Früher war es anders. Wenn unsere Profis zu Real Madrid gefahren sind, haben wir eine Mauer aufgebaut und wussten: Olli Kahn lässt aus 30 Meter keinen rein. Dann ging es auf Konter, alles rein ergebnisorientiert. Wir bieten eine komplette Ausbildung, kontrollieren fast alles. Jeder Spieler hat zum Beispiel einen Gurt, der seine Daten misst. Die vergleiche ich mit anderen, auch mit unseren Profis. Dann sage ich: „Du, pass’ mal auf, der Kollege, der deine Position spielt, läuft drei Kilometer mehr als du. Wenn du dahin kommen willst, musst du dich steigern.“ Samstags schaue ich mir die Spiele an. Eine halbe Stunde nach Abpfiff habe ich alle Daten. Am Tag danach spreche ich den Spieler erneut an. Und wenn er wieder zwei Kilometer zu wenig gelaufen ist, frage ich ihn: „Sag’ mal, was ist los mit dir? Willst du nicht irgendwann mal anfangen, dich zu verbessern?“

So sind Sie hinter den jungen Spielern her?

Gerland: Na klar.

Sauer: Nur so geht’s doch.

Wie schwierig ist es, das viel zitierte Münchner „Mia san mia“ einzuimpfen?

Sauer: Ein Talent saugt das immer mehr auf, je länger es im Verein ist. Wir versuchen, klar zu vermitteln: Ihr seid, unserer Meinung nach, bei einem der besten Klubs der Welt. Da ist der Weg nach oben. Wenn sie den Willen und die Stärke haben, sich durchzusetzen, haben sie das „Mia san mia“ verinnerlicht, wenn sie oben im Profibereich ankommen.

Wie leicht ist es denn hier auf dem Campus eigentlich, auszubüchsen?

Sauer: Es ist beschwerlich, von hier am Stadtrand ins tobende Leben zu kommen (grinst).

Gerland: Immerhin gibt es eine eigene Bushaltestelle . . . aber im Ernst: Man muss auch mal Verständnis haben. Das sind junge Menschen, die dürfen auch Fehler machen. Es ist nicht so, dass wir im Kloster sind. Wir waren alle mal jung, auch ich war nicht einfach zu handhaben. Wobei früher ja alles anders war. Fünf D-Mark habe ich in der Woche bekommen. Hätte ich mir eine Buskarte gekauft, hätte die 4,40 gekostet. Also bin ich mit dem Rad zum Training. Vorteil: Ich war schon warm. 16 Kilometer täglich. Zur Schule waren es auch sechs Kilometer. Wenn ich dort ankam, konnte ich manchmal meine Finger vor Kälte gar nicht mehr bewegen. Jeder hat so seine Sachen erlebt, und die Menschen heute sind nicht besser als wir, nicht schlechter als wir. Aber ein bisschen anders. Weil sie auch anders aufgewachsen sind.

Ist das Scouting-Netz jetzt so engmaschig, dass Sie deutschlandweit kein Talent mehr übersehen können?

Sauer: In der Region München, Bayern schließe ich aus, dass ein Talent wechselt, ohne dass wir es kennen. Jetzt haben wir 35 Appartements, an der Säbener Straße waren es bloß 15. Wir können nun weiter in die Ferne schweifen. Aber es macht nicht immer Sinn, einen 12-Jährigen aus seinem Umfeld zu reißen. Ab und zu muss man sagen: Wir lassen den Jungen, wo er ist – selbst wenn wir ihn gerne hier bei uns hätten.

"Wir werden international mehr sichten"

Spielt da Moral tatsächlich auch eine Rolle?

Sauer: Ja. Man muss auch mal die Finger weglassen. Nichtsdestotrotz werden wir auch international mehr sichten. Wir werden es nicht schaffen, jedes Jahr einen für die erste Mannschaft auszubilden, wenn wir uns auf die zehn Millionen im Einzugsbereich Bayern konzentrieren. Dann müsste ja auch jedes Jahr mindestens ein Superstar aus Österreich oder der Schweiz kommen. Da weiß jeder: Das ist illusorisch.

Ab wann macht individualisiertes Training Sinn?

Gerland: So früh wie möglich. Hier haben wir jetzt genügend Platz. Und die Manpower.

Sauer: Es gibt Talente, da merkt man sofort: Der hat eine ganz klare Waffe, ist prädestiniert für die oder die Position. Es gibt aber auch viele, die für viele Bereiche Spielintelligenz haben. Da wäre eine frühe Festlegung nicht sinnvoll. Am Ende ist es ein Mannschaftssport, deshalb ist Mannschaftstraining wichtig. Wenn einer den ganzen Tag mit Pappkameraden allein Dribblings übt, kann er irgendwann im Zirkus auftreten – aber ein Fußballer für den FC Bayern ist er noch lange nicht. Es darf nicht ziellos sein. Auch der fünfte feine Übersteiger hilft wenig, wenn der Ball nur im Toraus landet.

Warum haben Sie keinen Footbonauten, in Hoffenheim wird das Modul als Nunplusultra gesehen?

Gerland: Wir haben noch ein paar freie Räume, aber ich denke, ein weiterer Fußballplatz wäre wohl wichtiger. Ein Footbonaut ist mit hohen Kosten verbunden. Man kann das mit mehreren Trainern simulieren.

Sauer: Er ersetzt am Ende nicht den Fußballplatz. Oder das Kopfballpendel.

Halten Sie daran fest, dass die zweite Mannschaft Dritte Liga spielen muss?

Gerland: Wir müssen versuchen, die Dritte Liga so schnell wie möglich zu erreichen. Diese Saison wird es schwierig. Aber wir geben noch nicht auf.

Herr Gerland, schließen Sie aus, dass Sie irgendwo im U-Bereich noch einmal als Trainer einspringen?

Gerland: Man soll nie nie sagen. Meine Aufgabe ist jetzt hier . . . wie nennen Sie es?

Herbergsvater?

Gerland (lacht): Gut, nennen wir es so. Ich soll jedenfalls den Laden hier beobachten. Ich hatte eine wunderbare Zeit als Co-Trainer, aber mir macht es jetzt viel Spaß, mit den jungen Menschen zu arbeiten. Ich erzähle ihnen, wenn sie sich anstrengen, können sie eine wundervolle Karriere erleben, sich ein schönes Haus bauen, einen schönen Wagen kaufen – und die schönsten Frauen fragen dich um ein Autogramm . . . oder sogar um ein Date. Meine Fußballschuhe liegen stets bereit, ich kann jederzeit mit auf dem Platz im Training helfen.

Sauer: Ich habe ihn schon so oft in Trainingskleidung aus seinem Büro gehen sehen. Es ist für uns auch essenziel, dass er als Sportlicher Leiter mehr auf dem Platz die Dinge überprüft als am Schreibtisch sitzt. Es muss ja dort alles innerhalb der Leitplanken umgesetzt werden, die wir vorgeben.

Gerland: Wenn ich bei einem Training zuschaue, kommentiere ich jeden Ball: „Warum hoppelt der? Der darf nicht hoppeln!“ Da bin ich in meinem Element. Du musst immer hinterher sein. Immer.

"Hier schlummern wirklich großartige Talente"

Erstarren die Talente in Ehrfurcht, wenn Sie beim Training aufkreuzen?

Gerland: Warum sollten sie? Sie merken ja trotz meiner schroffen Art, dass ich es gut mit ihnen meine. Ich kann sie nicht immer streicheln und sagen: „Super, super!“ Ich habe genug Spieler gesehen, die eine sehr gute Karriere hätten haben können, aber nicht auf meine Ratschläge gehört haben. Manche treffe ich zehn Jahre später, dann jammern die: „Oh, Trainer, alles, was Sie damals gesagt haben, hat gestimmt – aber ich habe es nicht begriffen, und jetzt ist es vorbei!“ Es waren aber auch einige dabei, die wurden sechs, sieben, acht Mal Meister und sogar Weltmeister.

Und jetzt ist das Ziel, wieder ein paar Weltmeister auszubilden?

Gerland: Ich weiß jedenfalls, hier schlummern wirklich großartige Talente . . .

Hier schlummern Weltmeister?

Gerland (lacht): Das haben Sie jetzt gesagt. Wir machen unsere Arbeit, dann schauen wir, was dabei herauskommt.

Aufrufe: 014.9.2017, 08:40 Uhr
Hanna Raif/Andreas Werner - Münchner MerkurAutor