2024-04-25T14:35:39.956Z

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68 Tore erzielte Gerd Müller (Bild oben, l.) in 62 Länderspielen – eine seiner vielen Rekordmarken. dpa
68 Tore erzielte Gerd Müller (Bild oben, l.) in 62 Länderspielen – eine seiner vielen Rekordmarken. dpa

Gerd Müller, der tragische Torjäger

Reiz und Tücken einer Fußballer-Biografie

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Erstmals in seiner hundertjährigen Geschichte hat die Fußball-Fachzeitschrift Kicker den Vortrag einer Volkshochschule (VHS) veröffentlicht, freute sich Claus Lüdenbach, Geschäftsführer der Volkshochschule Erding.

VON DIETER PRIGLMEIR

Erding – Aber schließlich ging es ja auch um Gerd Müller, Welt- und Europameister, größter Torjäger aller Zeiten, der seit Jahren schwer erkrankt in einem Pflegeheim lebt.

Dr. Hans Woller war bis zu seiner Pensionierung Chefredakteur am Institut für Zeitgeschichte in München. Er veröffentlichte im Herbst vergangenen Jahres ein Buch über den „Bomber der Nation“ (Gerd Müller oder Wie das große Geld in den Fußball kam, C.H. Beck). Allerdings keines, wie, wo und wann er mit links, rechts oder dem Kopf getroffen hat („Was ist daran relevant?“). Sondern eines über den Mann, der „vom Provinzkicker aus ärmlichsten Verhältnissen zum Weltstar aufstieg, reich wurde und dann nach einem Ausflug in das Fußballentwicklungsland Amerika alkoholsüchtig in der Gosse landete“, wie es in der Vorankündigung der VHS stand.

In der Tat wurde Woller dann auch bei seinem Vortrag „Reiz und Tücken einer Fußballer-Biografie“ sehr deutlich: Ein Beispiel: „Der FC Bayern war zwar keine Säufertruppe wie das Team des Lokalrivalen 1860. Starke Trinker und Alkoholiker gab es aber auch hier in großer Zahl.“

Zu sehen und hören war dies dank des digitalen Projekts „vhs.wissen live“. Seit September 2019 – also bereits lange vor der Corona-Pandemie – schickt die VHS Erding in Kooperation mit der Volkshochschule Süd-Ost im Landkreis München Vorträge als Livestream in andere Volkshochschulen oder direkt ins Wohnzimmer. Die Teilnehmer können die Vorträge in Echtzeit mitverfolgen, fragen und mitdiskutieren. „Damit haben wir neue Zielgruppen fernab ihres lokalen Einzugsgebietes erschlossen“, erklärte Lüdenbach.

Und so war es: Für Gerd Müller interessieren sich nicht nur Menschen aus München und Erding. Am Ende waren 284 Rechner während des Vortrags zugeschaltet – und damit noch weit mehr Zuschauer und Zuhörer, „denn am Computer sitzt ja oft mehr als eine Person“, so Lüdenbach. Allein sieben seiner Familienangehörigen hätten den Vortrag verfolgt.

Technisch ging das so: Christoph Schulz und Andreas Mayer von der VHS München Südost richteten zwei Kameras auf den Referenten, checkten den Ton und brieften dann die User. „Sie brauchen heute keine Kamera und kein Mikro“, sagte Schulz den Zuhörern. „Sie sollten jetzt mich hören und ein Bild sehen können.“

Woller war die Situation anfangs nicht ganz geheuer. „Wir haben am Wochenende in der Bundesliga Geisterspiele erlebt, jetzt müssen wir uns auch noch an Geistervorträge gewöhnen“, sagte er. Aber dann legte er los.

Als er vor fünf Jahren mit der Recherche begonnen habe, sei er auf Unverständnis einiger Kollegen gestoßen. Er würde seine Reputation als Historiker aufs Spiel setzen. Von Woller gibt’s Publikationen über Mussolini und den Faschismus, eine Monologie über Italien. Aber wo sei die Relevanz bei einem Fußballspieler?

In seinem Buch gehe es eben nicht nur um den Protagonisten. „Gerd Müller war ein genialer Kicker, der allerdings nicht losgelöst war von den politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Konstellationen, in denen er seinen Sport betrieb. Fußball ist damit auch ein Stück Zeitgeschichte – und als solches muss er auch behandelt werden.“ Der Historiker verknüpfte Müllers Biografie (siehe Kasten) mit der Geschichte des deutschen Fußballs im Übergang vom Amateurkick zum Profitum und griff die Verbindungen von Fußball und Politik auf.

Es sei schwer gewesen, an Quellen zu kommen, weil Vereine in der Regel keine richtigen Archive haben und es kaum Nachlässe von Fußballern gebe. Die Finanzbehörden rückten keine Dokumente raus, Zeitungsartikel seien oft stark gefärbt, weil auch Sportjournalisten teil des Systems seien. „Was soll man beispielsweise von den Spiel- und Hintergrundberichten eines Reporters erwarten, der mit dem Vereinspräsidenten in Urlaub fuhr, ein günstiges Darlehen von seinem Verein erhalten hat oder elbst in der Führungsriege eines Vereins saß?“

Woller selbst habe 60 Interviews geführt – mit Mitspielern, Journalisten, Beamten und mit Müllers Familienangehörigen. Stundenlang sei er zum Beispiel mit Müllers Ehefrau zusammengesessen, die „beinahe täglich und über viele Stunden ihren schwerkranken Mann in einem hochprofessionell geführten Pflegeheim“ besuche. Auch er selbst sei mit Gerd Müller zusammengekommen, erzählte Woller. Aber aufgrund dessen Gesundheitszustands sei ein Gespräch mit ihm leider nicht möglich gewesen.

Der Historiker sagte dies tief ergriffen. Er sieht in dem Bayern-Stürmer jemanden, der nicht gemacht war für die große Bühne. „Er wollte sich nicht mit Haut und Haaren vermarkten lassen, wie es ein Beckenbauer, ein Hoeneß und ein Breitner meisterhaft verstanden. Müller war in Nördlingen noch im alten Amateurfußball aufgewachsen und hatte dort eine Heimat gefunden. Die ewigen Interviews und Geschäftstermine und die aufgeplusterten Selbstinszenierungen – das alles war in Müllers Augen reine Schaumschlägerei.“ Der Mann aus Nördlingen sei eben kein Entertainer gewesen, der in jede Rolle schlüpfen konnte. „Er wollte es auch nicht.“

Den größeren Teil seines Vortrags widmete Woller der Beziehung zwischen CSU und dem FC Bayern in den 1960er und 70er Jahren. Die Partei habe dem Verein immer wieder seine Steuerschulden erlassen und schließlich von der Vergnügungssteuer befreit – „wohlwissend, dass es sich dabei um eine Lex FC Bayern handelte, die gegen die Bayerische Verfassung verstieß“, so Woller.

Zudem habe es Fördermaßnahmen für Franz Beckenbauer und Gerd Müller gegeben. Treibende Kräfte seien Franz Josef Strauß und der bayerische Finanzminister Ludwig Huber gewesen. Letztere habe 1972 dem abwanderungslustigen Gerd Müller neue Einkommensquellen erschlossen: eine Toto-Lotto-Bezirksstelle und eine Generalagentur der Bayerischen Versicherungskammer.

Vom damaligen Vereinspräsident Willy Neudecker gibt gibt es laut Woller ungedruckte Memoiren. Darin sei ein Dialog enthalten: „Herr Staatsminister, wir können Franz Beckenbauer aus finanziellen Gründen nicht mehr halten, inwieweit können Sie uns helfen“? Der Minister habe darauf geantwortet: „Ihr seid doch Geschäftsleute und werdet Euch doch helfen können. Gebt Franz alles, was er verlangt, aber lasst ihn nur nicht weg aus München. Er ist sowohl für den Verein als auch politisch für das Land Bayern sehr wichtig.“

Woller ist sich allerdings sicher: „Der FC Bayern war dabei kein Einzelfall. Es gibt zwar keine Studien über andere Vereine, die Vergleiche und gesicherte Aussagen ermöglichten. Alle Indizien sprächen aber für die These, dass der Profifußball von Beginn an diese kriminelle Seite hatte: Wer konkurrenzfähig bleiben und Erfolge erzielen wollte, musste illegale Wege beschreiten.“

Im Chat wurde eifrig diskutiert. Ein User ärgerte sich über die Bezeichnung „Gosse“. Dem Vernehmen nach soll er einer jener Freunde gewesen sein, die Müller nach dessen Zeit in den USA geholfen haben. Woller ging noch einmal auf Müllers „immenses Alkoholprobem“ ein. „Ein, zwei Jahre lang bestimmte der Alkohol seinen Tagesryhthmus. Er hatte kaum mehr Geld, war angewiesen auf die Hilfe von zwei, drei Leuten, seine Leber war kaum mehr funktionsfähig.“

Keine Antwort hatte Woller auf die Frage eines Zuhörers, ob es eine Verbindung zwischen den Hilfen von damals und den Machenschaften von 2006 gebe. Woller: „Mein Buch dreht sich in erster Linie um Gerd Müller. Franz Beckenbauer – das sind ganz andere Dimensionen. Alles andere würde meine Kompetenzen bei Weitem überschreiten. Da fehlt mir auch der Zugang zu den Dokumenten.“

Bleibt noch die Frage eines Users, warum die CSU die Nähe zum FC Bayern gesucht hat und nicht zum TSV 1860. Woller drehte die Perspektive. Anfangs habe der FCB mit der roten Münchner Stadtspitze geflirtet. Präsident Neudecker war sogar SPD-Mitglied. „Als er aber gemerkt hat, dass er in München immer die zweite Geige spielen wird“, habe sich Neudecker an die Staatsregierung gewandt – und auch das Parteibuch gewechselt.

Vom FC Bayern sei übrigens keine Reaktion nach der Buch-Veröffentlichung gekommen, sagte Woller. „Warum auch? Es stimmt ja alles, was ich darin berichte.“ Eine Anfrage der Heimatzeitung bei der FCB-Pressestelle blieb gestern unbeantwortet. Selbst kickte Woller übrigens beim niederbayerischen FC Aldersbach. „Wir waren in der zweitniedrigsten Liga“, sagt er und fügt schmunzelnd hinzu, „Solange ich da gespielt habe, sind wir nie abgestiegen“. Sein Lieblingsverein? „Ich trinke in der Früh den Tee aus in meiner Bayern-Tasse.“

Aufrufe: 020.5.2020, 10:57 Uhr
Münchner Merkur / tz / Dieter PriglmeirAutor