2024-05-02T16:12:49.858Z

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Die Mannschaft der SpVgg. 1900 im Jahr 1949. Das Foto entstand auf dem Universitätssportplatz.	Foto: von Berg
Die Mannschaft der SpVgg. 1900 im Jahr 1949. Das Foto entstand auf dem Universitätssportplatz. Foto: von Berg

Dem deutschen Meister Paroli geboten

GESCHICHTE: +++ Heute vor 70 Jahren gastierte der VfR Mannheim in Gießen / Eines der ersten sportlichen Großereignisse nach dem 2. Weltkrieg +++

Gießen. „Wir mussten uns höllisch anstrengen, um nicht zu verlieren“, mit diesen Worten wurde Ernst Löttke, der bullige Torjäger des VfR Mannheim, der ein Jahr zuvor das Finale um die deutsche Fußballmeisterschaft entschieden hatte, nach dem Abpfiff in der Gießener Presse zitiert und er spielte damit auf die hervorragende Leistung an, die die Fußballer der Spielvereinigung 1900 Gießen am 5. August 1950 im Freundschaftsspiel gegen den amtierenden deutschen Meister gezeigt hatten. Nur knapp mit 4:3 hatte die Elf vom Neckar nämlich die Oberhand behalten und es hatte nicht viel gefehlt und den blau-weißen Gastgebern wäre in den Schlussminuten sogar noch der Ausgleich gelungen. Aber auch so war die Partie ein großartiger Erfolg für die Gießener Fußballer, die die über 7500 Zuschauer, die an diesem Samstag, Anpfiff 18 Uhr, auf den Universitätssportplatz gekommen waren, rundum begeistert hatte.

Das Gastspiel des VfR Mannheim, der sich ein Jahr zuvor in der berühmten „Hitzeschlacht von Stuttgart“ mit einem 3:2 n. V. über Borussia Dortmund überraschend den Titel gesichert hatte, war der Höhepunkt der Jubiläumswoche der SpVgg. 1900, die der Club zwischen dem 29. Juli und dem 6. August 1950 aus Anlass seines 50-jährigen Bestehen veranstaltete. Diverse Fußballspiele, Handballturniere, Boxkämpfe (in einem Freiluftring an der Grünberger Straße!), Leichtathletik- und Tischtenniswettkämpfe, ein Kinderfest, eine Akademische Feier in der Aula der Universität sowie ein Herrenkommers hielten die Gießenerinnen und Gießener über Tage in Atem. Zu Tausenden folgten sie den Einladungen und sorgten damit für eines der ersten sportlichen Großereignisse, die die noch immer von vielfältigen Zerstörungen gezeichnete Stadt nach dem 2. Weltkrieg erlebte.

Am Universitätssportplatz war sogar eigens ein großes Festzelt errichtet worden, in dem der Festwirt aus dem Gasthaus „Zum Kühlen Grund“ neben „prima Weinen und Schnäpsen“ auch das „Gießener Doppel-Export“ zum Ausschank brachte, wie eine eigens publizierte und mit vielen Inseraten der heimischen Wirtschaft gespickte Jubiläumsbroschüre nicht ohne Stolz verkündete.

Das Datum des 5. August für den Auftritt des deutschen Fußballmeisters in Gießen war übrigens nicht zufällig gewählt, denn genau an diesem Tag war der Club 50 Jahre zuvor in der Gaststube einer Brauerei unweit der Stadtkirche gegründet worden. Er war damit nicht nur der älteste Fußballverein der Stadt, sondern überhaupt der erste Club, der sich im gesamten mittelhessischen Raum dem Fußball verschrieben hatte. Bis Mitte der 1920er waren die 1900er, die durch eine Fusion zur Spielvereinigung geworden waren, sogar erstklassig und auch in den späten 1940er Jahren galten sie als stärkste heimische Elf. Lippert, Deeg, Meermann, Kociok oder Ebert sind Namen, die bei Kennern der Gießener Fußballhistorie noch heute hoch im Kurs stehen.

Als die 1900er aus ihrem gerade fertiggestellten neuen Vereinsheim traten, um gegen Mannheim auf den Platz zu laufen, hatten sie kurz zuvor gerade die erste Gießener Stadtmeisterschaft gewonnen und in einem Freundschaftsspiel, das ebenfalls bereits im Rahmen der Jubiläumswoche stattgefunden hatte, gegen den frisch gekürten Hessenmeister Darmstadt 98 2:2 gespielt.

Bis vier Minuten vor Schluss lagen sie gegen die Südhessen noch mit 0:2 zurück, um dann durch Stocker und eine „Meermann-Bombe“ in der Schlussminute aber doch noch zum viel umjubelten Ausgleich zu kommen. Mannheim, das in der nationalen Meisterschaft gerade im Viertelfinale an Preußen Dellbrück gescheitert war und seinen Titel somit nicht mehr verteidigen konnte, war jedoch noch einmal ein völlig anders Kaliber.

Den Kern der Mannschaft, die von Erfolgstrainer Hans „Bumbes“ Schmidt betreut wurde und der für sein scharfes Konditionstraining allseits gefürchtet war, bildeten fünf Spieler, die bereits über Jahre in der Kriegsgefangenschaft in Kanada zusammengespielt hatten. Bis auf de la Vigne und Langlotz kam der noch amtierende Meister in stärkster Aufstellung, lag aber bereits nach wenigen Minuten durch Ebert überraschend in Rückstand. Von einem „Orkan der Begeisterung“, der die angeblich in 30 Reihen hintereinander auf der Naturtribüne am Kugelberg stehenden Zuschauer erfasst hätte, berichtet seinerzeit der Gießener Anzeiger, nachdem der Gießener Führungstreffer gefallen war. Mannheims Mittelstürmer Löttke schoss den Oberligisten dann jedoch durch zwei Tore in Führung, aber Henn gelang der Ausgleich zum 2:2. Noch vor der Pause setzte sich Mannheim durch Maier und Danner dann jedoch auf 4:2 ab. Als Lengsdörfer zehn Minuten vor Schluss auf 3:4 verkürzen konnte, soll der Jubel der Gießener Zuschauer erneut keine Grenzen gekannt haben, aber die Hoffnungen auf den Ausgleich zerschlugen sich diesmal. Trotzdem hatte die SpVgg. gegen den zwei Spielklassen höher angesiedelten Gegner eine tolle Leistung geboten, und Mannheims Mittelläufer Keuerleber sagte: „1900 ist für eine Bezirksklassenelf erstaunlich gut. Die Gießener sind sehr eifrig, zielstrebig und fackeln nicht lange.“ Eine besondere Form der Anerkennung erfuhr schließlich auch noch Gießens Nachwuchsspieler Henn, von dem es nach der Partie hieß, am liebsten hätten ihn die Mannheimer gleich mitgenommen, so gut hätte er gespielt.

Lob für Henn

Lange überlebt hat die Spielvereinigung ihr glanzvolles Jubiläum im Sommer 1950 übrigens nicht, denn nur sechs Jahre später, im Frühjahr 1956, schloss sie sich mit ihrem alten Rivalen, dem VfB 08, der sportlich mittlerweile an ihr vorbeigezogen war, zum VfB 1900 Gießen zusammen, dessen Fußballabteilung jedoch heute auch nur noch Geschichte ist und im Grunde nur noch im Kleingedruckten des FC Gießen fortbesteht.

Aufrufe: 08.8.2020, 08:00 Uhr
Christian von Berg (Gießener Anzeiger)Autor