2024-05-08T14:46:11.570Z

Allgemeines

Deutsch­land braucht Stra­ßen­fuß­bal­ler

An den Aka­de­mi­en er­stickt der Fuß­ball im Sche­ma. Des­halb ver­lie­ren die deut­schen Nach­wuchs­mann­schaf­ten in­ter­na­tio­nal den An­schluss, und des­halb muss mehr Frei­heit her.

Ein Kommentar von Robert Peters: Al­le Jah­re wie­der ma­chen die Fuß­ball-Sach­ver­stän­di­gen die­se Dis­kus­si­on auf. Wenn es rum­pelt im gro­ßen Fuß­ball, wenn es zu ge­ord­net zu­geht auf dem Feld, wenn al­les zu be­re­chen­bar er­scheint, wenn die gro­ße Lan­ge­wei­le herrscht, dann kommt ga­ran­tiert ei­ner und klagt: „Wir ha­ben kei­ne Stra­ßen­fuß­bal­ler mehr.“

Dies­mal ver­dankt Deutsch­land die­se Ein­sicht An­dre­as (An­dy) Möl­ler, der im­mer­hin mal Welt­meis­ter wur­de und des­halb weiß, wo­von er spricht. Un­ter­des­sen lei­tet er das Nach­wuchs­leis­tungs­zen­trum sei­nes Hei­mat­ver­eins Ein­tracht Frank­furt, und in die­ser Ei­gen­schaft fass­te er die Kla­ge in ei­ne For­de­rung. „Wir wol­len doch krea­ti­ve Spie­ler“, sag­te er dem Fach­ma­ga­zin „Ki­cker“, „wir wol­len ei­ne Ge­ne­ra­ti­on von Stra­ßen­fuß­bal­lern.“

Wenn man Möl­lers For­de­rung wört­lich nimmt, ist sie ziem­lich rea­li­täts­fern. Wie soll es Stra­ßen­fuß­bal­ler ge­ben, wenn der Fuß­ball auf der Stra­ße an­ders als in we­nig mo­to­ri­sier­ten Zei­ten wie in den 1950er oder 1960er Jah­ren le­bens­ge­fähr­lich ist und da, wo frü­her Bolz­plät­ze in Bau­lü­cken im­pro­vi­siert wur­den, heu­te Häu­ser ste­hen?

Al­so geht’s um den In­halt des Be­griffs. Stra­ßen­fuß­ball – das ist ein Schuss An­ar­chie, das sind Dribb­lings auf en­gem Raum, Ge­fühl für den Ball auf schwie­ri­gem Un­ter­grund, Durch­set­zungs­ver­mö­gen in buch­stäb­lich en­gen Spiel­si­tua­tio­nen, Ein­falls­reich­tum, Lö­sun­gen aus dem Bauch her­aus. All das lern­te man frü­her auf Stra­ßen und Bolz­plät­zen. Aber es ge­riet in Ver­ges­sen­heit, weil es ei­ner­seits we­ni­ger Raum auf den Stra­ßen und we­ni­ger Bolz­plät­ze gab und weil sich an­de­rer­seits Klubs und Ver­band zum Ziel setz­ten, dem wil­den Im­pro­vi­sie­ren mit kon­trol­lier­ter Schu­lung zu be­geg­nen. Spä­tes­tens nach dem Rum­pel­fuß­balls der Jahr­tau­send­wen­de wur­de nach al­len Re­geln der di­dak­ti­schen Kunst der fei­ne Fuß­ball ge­lehrt, das zü­gi­ge Pass­spiel, die Ord­nung im Raum, die Funk­ti­on des Kol­lek­tivs.

Das hat­te vie­le po­si­ti­ve Ef­fek­te – un­ter an­de­rem den WM-Ti­tel ei­ner deut­schen Mann­schaft, die als per­fek­te Grup­pe funk­tio­nier­te. In den Schu­lungs­pro­gram­men hat­ten al­ler­dings So­lo­künst­ler und Son­der­lin­ge kei­nen Platz. Die Lust am Dribb­ling stand auf dem In­dex, an die Stel­le des Im­pro­vi­sie­rens rück­te tak­ti­sches Wis­sen. Der spä­te Meh­met Scholl be­dau­er­te, dass die heu­ti­ge Ge­ne­ra­ti­on vier tak­ti­sche Sys­te­me aus­wen­dig her­be­ten kön­ne, in un­er­war­te­ten Si­tua­tio­nen je­doch kei­ne Lö­sun­gen ha­be. Er drück­te das ein biss­chen un­fei­ner aus, aber er hat­te im Prin­zip recht. Er selbst steht in ei­ner lan­gen Rei­he je­ner, die vol­ler Weh­mut je­weils als „der letz­te Stra­ßen­fuß­bal­ler“ be­zeich­net wur­den. Olaf Thon ist ein an­de­res Ex­em­plar die­ser of­fen­bar im­mer wie­der mal aus­ster­ben­den Art, Franck Ribéry und (ja auch) Me­sut Özil gel­ten als ge­ra­de noch le­ben­de Ver­tre­ter.

Sie ver­weh­ren sich dem Sche­ma, in das die Fuß­ball-Aka­de­mi­en ih­re bra­ven Ab­sol­ven­ten pres­sen. Und weil das Sche­ma nie­mals die gan­ze Tie­fe des Spiels er­mes­sen kann, fehlt es dem deut­schen Fuß­ball an Nach­wuchs, der Ant­wor­ten auf Fra­gen des Spiels fin­det, die im Lehr­plan nicht ge­stellt wer­den (kön­nen). Die Sehn­sucht nach dem Stra­ßen­fuß­bal­le ist nichts als die Sehn­sucht nach Frei­heit im Kä­fig der Tak­tik.

Und wie las­sen sich Stra­ßen­fuß­bal­ler ent­wi­ckeln, wo sich doch Frei­heit so schlecht in Pro­gram­me fas­sen lässt? Ei­ne Idee ist: mehr Frei­heit ge­wäh­ren, auch auf dem Platz, nicht je­den Fumm­ler ins Sys­tem pres­sen, So­lis­ten re­spek­tie­ren. Das hört sich nur ein­fach an. Aber es ist, wie die Kanz­le­rin sa­gen wür­de, al­ter­na­tiv­los. Das zeigt die Bi­lanz der deut­schen Nach­wuchs­teams, die in­ter­na­tio­nal den An­schluss ver­lo­ren ha­ben.

Aufrufe: 020.1.2021, 12:00 Uhr
RP / Robert PetersAutor