2024-05-08T14:46:11.570Z

Kommentar
F: Sigel
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Bitte lieber Fußball, verlass mich nicht!

Freistoßspray, Grüne Karte, Chip im Ball und Videobeweis: Die Perfektion überrennt den Sport +++ Wenn revolutionäre Entscheidungen zur Tortur werden

Fußball. Emotionen. Ich bin bei meinem Kumpel zu Besuch. Wir spielen FIFA 07. Während er und sein größerer Bruder das Spiel um Platz zwei ausfechten, stöbere ich mal wieder in den Schränken des Zimmers herum, um diese außergewöhnlichen Fußballlektüren zu finden. Fußball-Gourmets wissen welche Bücher ich meine. Verrückte Bundesliga, verrückter Europacup, verrückte Nationalelf! Klasse!

Der rohe Sport in seiner Perfektion, zusammengefasst auf wenigen Seiten, ausgeschmückt mit Bildern, die in die Ewigkeit gehen. Die Bücher sind dick. Ob es die menschlichste Geste aller Zeiten war, als Oliver Kahn nach dem gewonnenen Champions-League-Finale dem niedergeschlagenen gegnerischen Torwart Santiago Canizares aufzumuntern versuchte oder aber das mit Abstand widerlichste Bild der Bundesliga-Geschichte, welches eine 25 Zentimeter lange, offene Wunde an Ewald Lienens rechtem Oberschenkel zeigt und das Bremer Stadion dadurch plötzlich einem Operationssaal gleicht – Bilder, Statistiken, Emotionen und klaffende Wunden. Hier wird der ganze Müll der letzten Jahre komprimiert. Empfehlenswert. Vom Karabiner Haken, der sich tief in das Fleisch von Ditmar Jakobs hineinbohrte, bis hin zum Wembley-Tor 1966.

Inzwischen bin ich 20 Jahre jung, spielte zwei Jahre Fußball für SW Middeslfähr/Mariensiel und konnte direkt im ersten Amateurjahr die Meisterschaft in der 2. Kreisklasse feiern. Verdienter Aufstieg. Die Punkteregelreform 1995 hat uns definitiv in die Karten gespielt. Mir nichts dir nichts waren unsere Siege mehr wert, denn jene Änderung wirkte sich auf jede Liga aus, egal ob hochbezahlter Profifußballer oder einfacher Maurer, da waren wir noch alle gleich scheiße. Dementsprechend der Aufstieg und prompt folgten bei mir die anfänglichen Starallüren. Beim obligatorischen Ausfüllen des strapazierenden deutschen Bürokratiezeugs setze ich selbstverständlich das Kreuzchen bei „Meister“ hin, wenn es um gesammelte Berufserfahrung geht. Dahinter erwartungsgemäß 2. Kreisklasse. Sich Meister zu nennen, klingt geil. So pathetisch und abgehoben. Der FC Bayern weiß, was ich meine. Genauso der BVB unter Kloppo, Schaaf mit Werder 2004 oder Wittekind Wildeshausen in der Bezirksliga letzten Jahres.

Neue Saison, neues Glück. Erster Spieltag gegen Frisia II, dem Topfavoriten der Liga. Zweifelsohne waren wir als Aufsteiger motiviert, in 90 Minuten das Spiel irgendwie an uns zu reißen. Wir ließen uns freilich öfter fallen, standen gewiss hinten tiefer als in der Spielzeit zuvor und witterten natürlich unsere Chancen bei Standards. So macht es Darmstadt mittlerweile als Aufsteiger auch. Wie auch wir in 90 Minuten. Unter den gleichen Bedingungen. Gut okay, unser Schiedsrichter ging auf die 70 zu, hatte einen Bewegungsradius von zweieinhalb Metern und entschied vom Mittelkreis aus - ohne Brille -, ob der Kopfball von Chrissi von der Unterkante der Latte die Linie passierte oder nicht. Wie 1966. Oder 2010. Lampards Schuss. Tor. Schiri sagt, ist nicht drin. Chrissis Kopfball. Tor. Schiri sagt, ist nicht drin. Alle gleich scheiße. Ob hochbezahlter Profifußballer oder einfacher Maurer. Der Chip im Ball hat sich inzwischen manifestiert. Es ginge um zu viel Geld, sagten die Experten. Experten. Pff. Fußball. Emotionen.

Während im Zuge des Kapitalismus die Schere der Gesellschaft zwischen arm und reich immer weiter auseinandergeht, Hautfarbe und Religion in einigen Teilen Deutschlands inzwischen als Stigma angerechnet werden, spielen diese Dinge im Fußball glücklicherweise keine Rolle. Im Profifußball sitzt auf der Tribüne der Reiche nebst dem Armen. Beide mit der gleichen Passion, samt Schal und Bier in den Händen. Beide regen sich über Fehlentscheidungen auf. Echauffieren auf einer Ebene. Aber wie lange noch? Im Amateurfußball fightet der Christ nebst dem Muslim. Beide mit der gleichen Passion, in 90 Minuten den Konkurrenten in die Knie zwingen zu wollen.

Das Profigeschäft distanziert sich langsam aber sicher von uns. Ey Arjen, betreiben wir überhaupt noch denselben Sport? Heutzutage muss ja alles perfekt sein. Die Mauer des FC Bayern München darf sich bloß keinen Zentimeter weiter nach vorne bewegen, festgelegt durch das Spray. Als wir gegen Frisia einen Freistoß kurz vor Schluss gegen uns kassierten, tippelte die Drei-Mann Mauer wenige Schritte in Richtung Ball, um es dem gegnerischen Team zu erschweren. Natürlich erst dann, als der Schiri in Grün, welcher die Hose so trug, wie einst Beckenbauer oder Breitner, rotierte, denn sonst hätte er uns völlig zurecht bestrafen können. So war es damals in der Bundesliga auch. Ob der Tiger, Tante Käthe oder der weiße Brasilianer – alle wurden sie regelkonform sanktioniert, denn alle waren gleich scheiße.

Und urplötzlich wird jeden Sonntag ab 11 Uhr diskutiert, wann der Videobeweis endgültig eingeführt wird. Mir scheint es, als wäre es nur eine Frage der Zeit, einzig und allein Kleinigkeiten müssen noch bereinigt werden, denn dann haben wir endlich das, was wir uns alle wünschen. Perfektion. Das, was den Fußball ausmacht. Was auch sonst? Das Wembley-Tor 1966 hätte nie Geschichte geschrieben. Toll, oder?

Ob es den Fußballliebhabern wirklich gefallen würde, wenn das Phantom-Tor von Thomas Helmer aus den Gedächtnissen gestrichen wird? Vielleicht sollte das mal Inhalt der Doppelpasssendung werden. Eventuell wäre Schalke 04 inzwischen sogar einmal Deutscher Meister geworden, denn den Rückpass in Hamburg hätte Dr. Markus Merk mit Sicherheit revidieren wollen. Und plötzlich werden die Fußballlektüren dünner und dünner. Die atemberaubende Fußballhistorie fällt nicht unter das Prädikat Perfektion. Mitnichten. Und bitte lieber Fußball, distanziere dich von dieser gefährlichen Entwicklung.

Ich huldige diesen Sport, mit all seinen Facetten und Fehlern, seinen Geschichten und strittigen Situationen. Das Luftloch schlagen nicht nur wir Amateurfußballer, sondern auch die Profis. Das Problem der fehlenden Transparenz haben nicht nur die Profis, sondern auch wir Amateurfußballer. Ein Bierchen nach dem Spiel trinken wir alle gerne. Bitte verkennt nicht den Wert dieser Sportart. Perfektioniert nicht das, was uns trauern und jubeln lässt. Lasst Manuel Neuer weiterhin den Arm heben, wenn er will. So macht es Mike Wübbenhorst in der 1. Kreisklasse auch. Oder Sebastian Pundsack beim VfL Wittekind Wildeshausen.

Derweil hat das Spiel um Platz zwei seinen Schlusspunkt gefunden. Mein Kumpel hat gewonnen. Mohamadou Idrissou knipst den Siegtreffer. Ich klappe „Verrückte Nationalelf“ zu. Wembley 1966 war das letzte Thema. Ball war nicht drin. Sein Bruder wirft uns raus, ist sauer. Fußball. Emotionen. Alle gleich scheiße.

Aufrufe: 011.4.2016, 13:15 Uhr
Kai HeermannAutor