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WM 2014
Archivfoto: Wißner
Archivfoto: Wißner

Von Endspielen, die in ein Leben passen

GESCHICHTE Wie Weltmeisterschaften das Dasein strukturieren / Ein Erfahrungsbericht aus den Untiefen der Zeit

GIESSEN - Wieviele Endspiele passen in ein Menschenleben? Ein schlauer Kopf im SZ-Magazin hat gerade geschrieben, dass „unser Dasein von den Fußballweltmeisterschaften strukturiert wird.“ Sozusagen in Vier-Jahres-Scheiben zerlegt, nicht in vier Jahreszeiten. Das gebe einem Halt. Schreibt er.

Aber mal ehrlich, was juckt uns das Ausscheiden 1978, das Aus 1994, oder Davor Suker, der alte Kroate, der uns rauswarf 1998? Der wahre Fan bemisst sein Leben in Endspielen – und wer Mitte der 60er Jahre geboren ist, der hat sie alle miterlebt und erlitten – alle sieben. Ein gewisser R., Jahrgang 1965, erzählt.

Bern, 1954, Deutschland – Ungarn 3:2 (2:2): Minus neun Jahre alt zu sein, ist kein Hindernis. Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit sind trotzdem alle live dabei. Auch ungeboren. R. hört es wie heute. „Rahn könnte schießen, Rahn schießt“ – „Tor, Tor, Tor“ – „Das Spielist Aus, Deutschland ist Weltmeister“. Herbert Zimmermann, ein Quäker im Radio. Dazu graugestaubte Bilder im Kopf. Der regennasse Fritz Walter. Männer mit Hüten, die ihre Flaschenbiergesichter, ein wenig ausgezehrt, an Schaufensterscheiben drücken. Dahinter ein flackerndes Schwarz-Weiß-Bild. Das Wunder von Bern strahlt aus bis in die Sixties.

London, 1966, Deutschland – England 2:4 (n.V., 2:2, 1:1): Naja, zumindest bis 1966. Wembley-Tor. Geoff Hurst (101. Minute) schießt. R. (1 Jahr) schläft in der Wiege, Schiedsrichter Gottfried Dienst (Schweiz) gibt das Tor. R. (1) wird wach, weil die Wände wackeln nach Vaters Wutanfall. In die Schweiz fahren wir nie mehr. Höchstens nach Österreich – bis Cordoba (78). I werd narrisch.

München, 1974, Deutschland – Niederlande 2:1 (2:1): Die Mäntel waren nun bunter, die Bilder im Fernsehen auch. Nach dem 0:1 nach zwei Minuten (Neekens) kauert sich R. (9) in seinem Zimmer in die Ecke. 1:1 Breitner. R. sitzt wieder auf dem Sofa. Und er sieht, dass kleine dicke Männer Tore schießen können: Gerd Müller, Drehung, Tor, Jubelsprung (42.). Den Rest hält Sepp Maier fest. 54, 74 – die Eltern ziehen die Hüte auf, zur Feier des Tages gibt es ein Essen. In der Pizzeria: Spaghetti. Bis...

Madrid, 1982, Deutschland – Italien 1:3 (0:0): Das ist Freiheit. Interrail. Für 320 Mark mit dem Zug durch Europa. Nix mehr Wohnzimmer, nix mehr Sofa, mit zwei Kumpels im wackeligen Waggon, der sich auf den Schienen bog mit knarzenden Geräuschen nach Sevilla (das Jahrhundertspiel gegen Frankreich!), dann nach Madrid. Das Finale im Stadion. Neben einem Argentinier steht R. (17) drei Stunden in der Schlange vor dem Estadio Bernabeu. Sonne satt, 40 Grad. 35 Mark die Finalkarte. Und dann Rossi, Tardelli, Altobelli: 3:0. Wir gehen früher, 1:3 Breitner. Kann uns mal. Wir reisen weiter nach Portugal. Am Strand werden die Rucksäcke geklaut. Das passt. Muss ein Italiener gewesen sein. Altobelli vielleicht, oder Rossi. Ach, kack Freiheit.

Mexiko, 1986, Deutschland – Argentinien 2:3 (0:1): R. (21) mit den Kumpels in der Kneipe. Das heißt: zwei sind in der Kneipe, einer ist permanent draußen, der hält es nicht aus. 0:2 (23., 56.) Brown und Valdano. Deutschland gleicht aus: Rummenigge (74.), Völler (81.) zum 2:2. Kumpel P. steckt den Kopf zur Tür rein, setzt sich hin, zwei Zigaretten hat er angezündet. Die Nerven. Kaum sitzt er, fällt das 3:2 – für Argentinien. Buruchaga (84.). An dem Abend haben wir P. nicht mehr gesehen. Und er hat nur die argentinischen Tore gesehen. Ein Frust-Pils zum Abschluss darf man trinken. Pilze darf man aber nicht essen, die strahlen wie die Argentinier. Die einen nach Tschernobyl, die anderen nach Mexiko.

Rom, 1990, Deutschland – Argentinien 1:0 (0:0): Brehme könnte schießen, Brehme schießt – den Elfmeter rein. Rudi Völler fiel zuvor. Theatralisch. In der 85. Minute. P. ist auch wieder da, obwohl er vom Spiel wieder nur die Hälfte sieht. Wie ein hospitalistisches Tier tigert er rein, raus, raus, rein. Diesmal sieht er aber das Tor für Deutschland einig Kaiserland. Deutschland ist auf Jahrzehnte unschlagbar, sagt Beckenbauer. Hat kein Jahr gehalten, der Unfug. Private looking, public partying – der erste Autokorso rollt durch Gießen. Und wir rollen mit den Augen, weil sich das verselbständigt wie nix.

Yokohama, 2002, Deutschland – Brasilien 0:2 (0:0): Ein Endspiel, das R. (37) mit Schamesröte verfolgt. Ins Endspiel gerumpelt haben sie sich – nur King Kahn, der Titan, hält das Völler-Team im Turnier. Aber dann auch vom Triumph ab. Fehler Kahn, Ronaldo trifft doppelt. Mit seiner Klo-Bürsten-Frisur. Kahn könnte heulen. Kahn heult. Deutschland wartet weiter – und R. auch.

Rio de Janeiro, 2014, Deutschland – Argentinien: Aus, aus, aus – das Spiel ist aus, Deutschland ist Weltmeister.! R. (49) hat wieder Struktur im Leben. Hoffentlich.

Aufrufe: 012.7.2014, 12:00 Uhr
Rüdiger DittrichAutor