2024-04-30T13:48:59.170Z

Interview
"Dieser Verein hat mir schon immer sehr viel bedeutet": Stefan Kießling ist Bayer Leverkusen auch nach seiner aktiven Karriere in neuer Position treu geblieben.
"Dieser Verein hat mir schon immer sehr viel bedeutet": Stefan Kießling ist Bayer Leverkusen auch nach seiner aktiven Karriere in neuer Position treu geblieben. – Foto: Sven Leifer

Kießling: »Musste mich an die Rolle des Backups erst einmal gewöhnen«

Teil 2 des großen Exportschlager-Interviews aus Oberfranken mit dem ehemaligen Bundesligaprofi Stefan Kießling.

Im ersten Teil des Exportschlager-Interviews erzählt Stefan Kießling von der Saison 2012/13, mit der er sich in die Leverkusener Geschichtsbücher eintrug. Mit einem seiner vielen Tore sorgte der gebürtige Lichtenfelser ungewollt für eine öffentliche Debatte. Im zweiten Teil spricht Kießling über das Phantomtor in Hoffenheim am 18. Oktober 2013, die aktuelle Aufgabe in Leverkusen sowie die Zeit in der Nationalmannschaft. Ein Gespräch über die letzten Jahre seiner Karriere und ein Versprechen an seinen Freund und Trauzeugen Theo Trajkowski.

Durch das Phantomtor wurden Sie erstmalig mit Beleidigungen konfrontiert. Wie sind Sie mit dieser Situation umgegangen, dass Menschen Sie plötzlich öffentlich angefeindet haben?

Ich habe mir diese Nachrichten zu Herzen genommen. Dabei war ich weder für das Loch ins Netz verantwortlich noch habe ich absichtlich dorthin geköpft, um Unruhe zu stiften. Es gehört als Profi-Sportler dazu, dass man mit Kritik leben muss. Es gibt aber Grenzen und Chaoten, die immer wieder über diese hinausgehen. Ich finde Beleidigungen jeglicher Art einfach schrecklich. Es belastet einen enorm, vor allem wenn deine Familie beleidigt wird.

Trotzdem haben Sie in der Öffentlichkeit Haltung bewiesen, in dem Sie immer wieder gesagt haben, dass Sie nicht wussten wie der Ball im Netz gelandet ist.

So war es auch. Ich hatte den Ball geköpft und gesehen, dass er in Richtung Außennetz geht. Weil ich in der Bewegung war, konnte ich die weitere Flugbahn nicht verfolgen. Plötzlich lag der Ball im Tor. Und im Bruchteil einer Sekunde sind mir mindestens fünf Gedanken gleichzeitig durch den Kopf geschossen, was passiert sein könnte. Keiner im Stadion konnte sich das in diesem Moment erklären. Der Schiedsrichter Felix Brych hat dann letztendlich auf Tor entschieden. Und die Geschichte nahm ihren Lauf.

2014 stieß Roger Schmidt zur Werkself. Im ersten Jahr unter dem neuen Trainer haben Sie alle Pflichtspiele absolviert, dann hat sich Ihre Rolle im Kader verändert.

Das stimmt. Im zweiten Jahr unter Roger Schmidt kam Chicharito Ende August zu uns. Wir haben nur noch mit einer Spitze gespielt. Ich habe gemerkt, dass man nicht mehr bedingungslos auf mich setzt. Das war eine ganz schwierige Zeit, die ich so vorher noch nicht erlebt hatte. Ich wollte in der Winterpause nach Hannover wechseln, da ich wusste, dass ich nicht mehr so viele Jahre vor mir hatte und unbedingt spielen wollte.

Schauplatz Sinsheim: Am 18. Oktober 2013 erzielte Stefan Kießling das sagenumworbene Phantomtor, die Geschichte nahm seinen Lauf.
Schauplatz Sinsheim: Am 18. Oktober 2013 erzielte Stefan Kießling das sagenumworbene Phantomtor, die Geschichte nahm seinen Lauf. – Foto: Getty Images

Kießling: »Es war nicht einfach, den Schritt vom Stammspieler zum Reservisten nachzuvollziehen«



Wie kam es dazu, dass Sie trotzdem in Leverkusen geblieben sind?

Hannover hatte 2015/16 gegen den Abstieg gekämpft und ich wollte dort mithelfen, den Klassenerhalt zu erreichen. Zudem kannte ich den Sportdirektor Martin Bader aus gemeinsamen Nürnberger Zeiten. Leverkusen wollte mich aber nicht gehen lassen. Im Februar 2016 habe ich mich dann im Europapokalspiel gegen Benfica Lissabon an der Hüfte verletzt. Ich konnte nicht mehr so trainieren, wie ich wollte. Ich habe zwar in der Rückrunde wieder mehr gespielt, aber die Schmerzen habe ich täglich mit mir herumgeschleppt. Ich habe gemerkt, dass meine Zeit als Profifußballer zu Ende geht.

Was meinen Sie damit konkret?

Als Heiko Herrlich im Sommer 2017 gekommen ist, habe ich bekannt gegeben, dass es definitiv mein letztes Jahr als Spieler sein wird. Anschließend musste mich an die Rolle des Backups erst einmal gewöhnen. Es war nicht einfach, den Schritt vom Stammspieler zum Mitläufer und letztendlich zum Reservisten auch mental nachzuvollziehen. Ich habe knapp zwei Monate gebraucht. Dann habe ich anders darüber gedacht, die Rolle angenommen und zu mir selbst gesagt, dass ich nun in erster Linie meine Kollegen unterstützen möchte.

Kam für Sie durch die Reservisten-Rolle in Leverkusen eine neue Herausforderung nicht in Frage?

Nein, das wäre schon aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr gegangen. Wir waren damals in Kanada im Familienurlaub. Dort hat mich Bruno Labbadia angerufen, der den HSV trainierte und gefragt, ob ich noch ein bis zwei Jahre unter ihm spielen möchte.

Wie haben Sie Ihm geantwortet?

Ich habe ihm ehrlich gesagt, dass ich nicht weiß, ob ich weiterhin konstant die Leistungen abrufen kann, die man vor mir erwartet. Damit hätte ich weder Bruno noch dem Verein und auch mir keinen Gefallen getan. Ich konnte mich nicht mehr richtig bewegen, weshalb es die richtige Entscheidung war, noch ein Jahr in Leverkusen dranzuhängen. Hier kannten mich die Menschen und wussten, wie ich mit meiner gesundheitlichen Situation umgehe. Ich wollte mich noch ein Jahr durchbeißen, bevor ich meine Schuhe an den Nagel hänge.


Ein harter Schlag: Im Februar 2016 verletzt sich Stefan Kießling an der Hüfte, der Beginn einer langen Leidenszeit.
Ein harter Schlag: Im Februar 2016 verletzt sich Stefan Kießling an der Hüfte, der Beginn einer langen Leidenszeit. – Foto: Getty Images



Sie haben es in Ihrer letzten Saison 2017/18 auf acht Einsätze gebracht. Damit haben Sie die 400-Spiele-Marke geknackt. Sie sind mit insgesamt 403 Bundesliga-Spielen zur Identifikationsfigur im Verein geworden. Ehrt Sie dieser Status?

Ja, definitiv. Dieser Verein hat mir schon immer sehr viel bedeutet. Ich kenne mittlerweile nahezu jeden Angestellten im Verein persönlich und habe über die Jahre eine besondere Verbindung zu unseren Fans aufgebaut. Zudem freut es mich, für viele Jugendliche ein Vorbild zu sein. Alles Dinge, die man mit Geld nicht kaufen kann.

Ihrem Verein Bayern 04 Leverkusen sind Sie dann auch nach Ihrer aktiven Zeit treu geblieben. Hatten Sie das bereits so geplant?

Ein Jahr vor meinem Karriereende haben wir uns mit der Vereinsführung zusammengesetzt, allerdings gab es damals noch keine konkrete Stellenbeschreibung für mich. Zumal ich mir nach dem Fußball erstmal eine kurze Auszeit nehmen wollte. Ich bin mit der Familie vier Monate um die Welt gereist.

Eine Tätigkeit als Trainer kam bei Ihrer Erfahrung sicherlich auch in Frage.

Für mich erstmal nicht. Ich habe die Fußballschuhe ausgezogen und gedacht, dass ich erstmal ein wenig Abstand zum Fußballplatz brauche. Ich wollte lieber von Rudi Völler lernen. Wir haben uns zusammengesetzt und ich habe über zwei Jahre hinweg das Unternehmen Bayern 04 Leverkusen kennengelernt. Das war sehr interessant.


Leverkusener Identifikationsfigur: Stefan Kießling (m.) wird von seinen Teamkollegen Karim Bellarabi, Jonathan Tah (l.), Ömer Toprak und Hakan Çalhanoğlu (r.) gefeiert.
Leverkusener Identifikationsfigur: Stefan Kießling (m.) wird von seinen Teamkollegen Karim Bellarabi, Jonathan Tah (l.), Ömer Toprak und Hakan Çalhanoğlu (r.) gefeiert. – Foto: Getty Images

Kießling über Rudi Völler: »Seine Erfahrungen und Einschätzungen sind unbezahlbar«

Haben Sie anhand dieser Eindrücke gemerkt, dass Sie sich eine Tätigkeit in der Geschäftsführung vorstellen können?

Ich kann in diesem Bereich auf jeden Fall noch dazulernen. Aktuell bin ich beim Sportdirektorlehrgang von DFL/DFB dabei. Zudem übernehme ich die Koordination von verschiedenen Themen rund um die Lizenzmannschaft. Dazu gehört die Organisation von Auswärtsspiele in der Bundesliga und in der Europa League sowie die Betreuung verschiedener Angelegenheiten rund um die Mannschaft.

Den Gedanken an eine Trainerkarriere haben Sie sozusagen an den Nagel gehängt.

Nein. Ich kann mir gut vorstellen, zu einem späteren Zeitpunkt nebenbei Trainerscheine zu machen.

Was hat Sie zu diesem Entschluss bewegt?

Wenn du über so viele Jahre aktiv Fußball gespielt hast, kannst du nicht von heute auf morgen die Entscheidung treffen, wie die nächsten Berufsjahre konkret aussehen sollen. Das, was ich aktuell mache, tue ich sehr gerne. Aber auch in der Karriere nach der Karriere verfolge ich das Ziel, mich ständig weiterzuentwickeln und mir neue Ziele zu setzen.

Wie sieht Ihr Blick in die Zukunft aus?

Ich kann mir sowohl vorstellen, im Management tätig zu sein, aber auch eine Trainerkarriere ist vorstellbar.

Ihr Vorgesetzter Rudi Völler war sowohl als Spieler, Trainer und Sportdirektor aktiv. Aktuell ist er als Geschäftsführer Sport bei Bayer 04 Leverkusen tätig. Ist er ein guter Lehrer?

Ja, definitiv. Seine Erfahrungen und Einschätzungen sind unbezahlbar. Rudi und ich verstehen uns sehr gut. Ich diskutiere gerne, dabei kann es auch vorkommen, dass ich eine andere Meinung als Rudi vertrete. Dank unseres guten Verhältnisses können wir auch über unterschiedliche Ansichten sachlich reden. Insgesamt kann ich sagen, dass es mir großen Spaß macht und ich auch sehr davon profitiere, mit Rudi, aber auch mit Geschäftsführer Fernando Carro und Sportdirektor Simon Rolfes zusammenzuarbeiten.

Kießling über die Zeit beim DFB: »Ich konnte die Fragen durch gute Leistungen immer weglächeln«

Die Nationalmannschaft und Sie: Eine Beziehung, die oft als kompliziert betitelt wurde. Sehen Sie das ähnlich?

Nein. Es war für mich immer ein Privileg, den Adler auf der Brust zu tragen. Ich konnte das Gefühl sechsmal erleben. Das war großartig. Die Diskussionen um meine Person waren für mich eher etwas amüsant als kompliziert.

Inwiefern?

Viele Medien und Experten haben oft verlangt, dass ich aufgrund meiner Leistungen im Verein zur Nationalmannschaft muss. Ich wurde immer wieder mit den Fragen konfrontiert, warum ich nicht dabei bin oder warum ich nicht spiele. Ich habe mir oft gedacht, warum soll ich eigentlich diese Fragen beantworten? Ist das nicht eher die Aufgabe des Bundestrainers. Es war in der Hinsicht amüsant, dass ich die Fragen durch gute Leistungen immer weglächeln konnte.

Haben Sie sich dennoch nicht darüber geärgert, dass Sie trotz der herausragenden Leistungen in der Saison 2012/13 keine tragende Rolle in der Nationalmannschaft gespielt haben?

Nein. Wie gesagt, ich bin immer gerne bei der Nationalmannschaft gewesen, wenn ich eingeladen wurde. Dort konnte ich immer vom Liga-Alltag abschalten. Bei der WM 2010 waren Miroslav Klose, Mario Gomez, Cacau und ich dabei. Im System vom Bundestrainer hat damals nur ein Stürmer gespielt. Der Konkurrenzkampf war sehr groß, und Jogi Löw hat sich damals nicht für mich entschieden. Im Nachhinein betrachtet bin ich Nationalspieler gewesen, war im Jahr 2010 im WM-Kader und habe mit Deutschland den 3. Platz erreicht. Darauf bin ich einfach stolz.


Schnürt die Schuhe höchstens noch einmal für die Traditionsmannschaft: Stefan Kießling, hier in der Partie gegen den SC Freiburg, konzentriert sich nun auf seine Karriere fernab des Fußballplatzes.
Schnürt die Schuhe höchstens noch einmal für die Traditionsmannschaft: Stefan Kießling, hier in der Partie gegen den SC Freiburg, konzentriert sich nun auf seine Karriere fernab des Fußballplatzes. – Foto: Getty Images


Sie sprechen die WM in Südafrika an. Sicherlich ein sehr spezielles Erlebnis für Sie.

Das stimmt. Die Atmosphäre im Land war grandios, die Einheimischen waren unfassbar gastfreundlich. Es war aber auch eine lange Zeit, fast zwei Monate, in denen ich meine Familie nicht gesehen habe. Trotzdem habe ich das Erlebnis gerne mitgenommen und die Eindrücke aufgesaugt. Ich bin stolz darauf, dass ich dabei sein durfte. Meine Medaille zu Hause erinnert mich bis heute daran.

Nun wartet nur noch Ihr Trauzeuge Theo Trajkowski, der Sie überzeugt hat nochmal für den FV Schelklingen-Hausen in der Kreisliga aufzulaufen, auf weitere Einsätze.

(lacht) Ich habe mein Versprechen bereits eingelöst und bin einmal für den FV Schelkingen-Hausen aufgelaufen. Der Auftritt ist damals in die Hose gegangen, da ich mich wegen meiner Hüftprobleme kaum bewegen konnte. Das hatte ich mir anders vorgestellt.

Schnüren Sie dann überhaupt nochmal die Fußballschuhe?

Nein, für ein Spiel im Ligabetrieb nicht mehr. Ich habe seit Oktober 2019 eine neue Hüfte und wenn ich fußballerisch wieder was machen sollte, werde ich höchstens mal in der Leverkusener Traditionsmannschaft mitkicken.


Das Interview führte Niklas Korzendorfer

Aufrufe: 013.2.2021, 06:00 Uhr
Niklas KorzendorferAutor