2024-05-02T16:12:49.858Z

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Weiß aktuell noch nicht, wo die Reise hingehen soll: Trainer Andre Weinecker von der FSG Biebertal.	Foto: Schepp
Weiß aktuell noch nicht, wo die Reise hingehen soll: Trainer Andre Weinecker von der FSG Biebertal. Foto: Schepp

Ein Stück Normalität wahren

GIESSEN/WETZLAR: +++ Die Coronakrise hat den Alltag von Physiotherapeut und Trainer der FSG Biebertal Andre Weinecker verändert +++

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Heuchelheim. Normalerweise ist der Alltag von Andre Weinecker durch und durch vom Sport bestimmt. Als Physiotherapeut mit einer Praxis in Heuchelheim ist er der erste Anlaufpunkt für Sportler, die nach einer Verletzung mit der Reha beginnen. Am Abend nach getaner Arbeit und den Wochenenden steht der 35-Jährige auf dem Trainingsplatz beziehungsweise am Spielfeldrand als Trainer des Gießener A-Ligisten FSG Biebertal. Doch was ist in diesen Zeiten schon normal, was Alltag?

Umso überraschender, dass der erste Kontaktaufnahme-Versuch mit Weinecker per Telefon scheitert. „Bin am Arbeiten, um was geht es?“, leuchtet kurz darauf eine WhatsApp-Nachricht des 35-Jährigen auf. Damit war nicht unbedingt zu rechnen. Schließlich übt Weinecker einen Job aus, bei dem enger Körperkontakt mit den Patienten unumgänglich ist. In vom „social distancing“ geprägten Zeiten eigentlich ein No-Go. Erst am Freitag hatte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder für sein Bundesland eine Ausgangsbeschränkung verhängt – worunter auch Physiotherapeuten fallen, die künftig nur noch in Notfällen arbeiten sollen. In Hessen gilt das auch nach den Beschlüssen des Wochenendes nicht, stellt Weinecker unmissverständlich klar, denn: „Wir fallen unter die medizinische Grundversorgung. Das Gesundheitsamt schließt die Praxis nur, wenn wir einen Coronafall hätten.“ Doch auch Weinecker, dessen Arbeitsalltag durchgetaktet und bei dem Stressresistenz das höchste Gebot ist, spürt einen merklichen Unterschied. „An einem normalen Tag behandele ich rund 20 Patienten. Das wird seit vergangener Woche peu a peu weniger. Mal sind es noch zehn oder elf, an manchen Tagen aber auch nur sieben oder acht. Das ist finanziell gerade noch akzeptabel. Einige Patienten, die nicht unter die Risikogruppen fallen, haben mir auch schon zugesichert, dass sie weiterhin kommen wollen. Aber es werden immer weniger. Auch, weil Ärzte derzeit eine geringere Menge an Rezepte ausstellen.“ Gedanken und Sorgen um die berufliche und damit wirtschaftliche Existenz für sich und seine Familie bleiben da nicht aus. „Ich bin ein Ein-Mann-Unternehmen, falle damit unter die Solo-Selbstständigen. Meine Frau Nicole ist ebenfalls selbstständige Physiotherapeutin, arbeitet halbtags in einer Praxis in Rodheim.“

Doch der Vater von drei Kindern, die derzeit zu Hause von ihm und seiner Frau betreut werden, versucht, dieser Krisensituation eine große Portion Pragmatismus entgegenzusetzen. „Ich gehe respektvoll und mit dem nötigen Ernst mit dieser Lage um. Wir alle haben in unserem persönlichen Umfeld jemanden aus der Risikogruppe, der besonders gefährdet ist. Ich werde mich deshalb jetzt nicht mit Freunden mit der Decke in den Park setzen und das Ganze mit Füßen treten.“ Deshalb will er für das Thema sensibilisieren, statt Ängste zu schüren. „Wenn jetzt jemand aus einer Risikogruppe einen Termin bei mir machen möchte, kläre ich ihn zunächst über die möglichen Risiken und Folgen für ihn und mich auf und sage ihm klipp und klar, dass wir den Termin zunächst einmal um zwei Wochen verschieben und dann weitersehen sollten. Wenn der Patient aber dann immer noch kommen möchte, werde ich ihn nicht abweisen, die Praxis noch einmal vorher extra gründlicher reinigen als ohnehin schon, dafür sorgen, dass der Patient nicht noch mit einem weiteren Patienten in Kontakt kommt und ihn zumindest bitten, einen Mundschutz zu tragen.“ Weinecker zieht aber auch klare Grenzen: „Üblicherweise habe ich fünf Patienten über 80 Jahre, bei denen ich zweimal die Woche Hausbesuche mache. Das kommt natürlich überhaupt nicht mehr in Frage.“

Es sei ein stetes Abwägen und Neubewerten der Situation, die sich momentan „gefühlt stündlich ändert“, macht Weinecker auch keinen Hehl aus der Unsicherheit, die aktuell allgegenwärtig ist. „Sollten es stetig weniger Patienten werden, weiß ich gegenwärtig nicht, wer für den Ausfall aufkommen würde. Nur bei Schließung durch einen Infizierten stünde uns definitiv ein Ausfall zu. Es gibt zwar die Möglichkeit, über die letztjährige Steuererklärung ein Ausfallgeld zu bekommen, da ist aber kein fester Satz festgelegt, mit dem ich dann planen könnte. Hier würde ich mir eine klare Linie und Regelung sowie Ansprechpartner wünschen.“

Derzeit fehlt zudem die übliche Ablenkung durch den Freizeitsport und seine Trainertätigkeit bei der FSG Biebertal. „Das Team habe ich zuletzt beim Training am Donnerstag vor einer Woche gesehen, wo wir den Fahrplan für die nächsten Wochen besprochen haben. Eigentlich wollten wir bis zum Ende der Spielpause an Ostern den Rhythmus aufrecht erhalten, doch zwei Tage später kam die Nachricht, dass alle Anlagen geschlossen werden.“ Seine Spieler halten sich derzeit dank eines Plans von FSG-Fitnesscoach und Personal-Trainer Richard Adjei bestmöglich fit. Wie lange sie das ohne Fußball tun müssen, ist derzeit noch in der Schwebe, wenngleich Weinecker sich „nicht vorstellen kann, dass es am 10. April weitergeht. Wenn überhaupt werden wir im August in die neue Runde starten.“ Auch hier wünscht er sich eine klare Linie. „Die 1. und 2. Bundesliga entscheidet anders als die 3. Liga. Die Regionalligen entscheiden noch einmal anders als der Hessische Fußball-Verband.“

Sein Credo: „Auch wenn es sportlich für Biebertal bitter wäre, weil wir noch Aufstiegschancen hätten, bin ich der gleichen Meinung wie Henry Mohr. Die aktuellen Tabellen sollten eingefroren und der Ist-Zustand gewertet werden.“ Gleiches gelte auch für den Profibereich. „Das ist sicher hart, weil es nie für alle fair sein kann. Aber es gibt wichtigeres als Sport. Hier geht es darum, eine Pandemie einzudämmen und Leute zu schützen, nicht um den Freizeitspaß im Stadion. Man stelle sich nur vor, die Saison wird weitergeführt und dann gibt es doch einen Fall im Stadion. Dann werden manche Teams unter Quarantäne gesetzt und manche nicht. Das ist doch mit dem gesunden Menschenverstand nicht vereinbar!“

Derzeit ist es ein schmaler Grat zwischen Unsicherheit, Gesundheitsrisiken, Existenzängsten und Pragmatismus: Weinecker hätte allen Grund, beunruhigt und angespannt zu sein, doch er strahlt im Gespräch Ruhe aus. „Es bringt nichts, in Panik zu verfallen oder durch Hamsterkäufe eine Hysterie zu schüren. Wir müssen diese Situation akzeptieren und lernen, mit ihr umzugehen.“ Für den Familienvater heißt das auch, sich durch die Arbeit in der Praxis ein Stück Alltagsnormalität zu wahren.



Aufrufe: 024.3.2020, 08:00 Uhr
Tim GeorgAutor