2024-05-08T14:46:11.570Z

Allgemeines
– Foto: Piper Verlag

Die Angst des Jugendfußballers vor dem Wegschicken

Buchtipp +++ Der große Traum erfüllt sich für die wenigsten Talente

Ronald Rengs subtiles Buch über zwei Jungs, die in die Bundesliga wollten, und einen, der es geschafft hat.

Der italienische Nationaldichter Dante Alighieri konnte vor über 700 Jahren kein Fußballkenner gewesen sein. Doch sein berühmter Vers hätte statt über dem Höllentor der "Göttlichen Komödie" auch über dem Eingang eines deutschen Nachwuchsleistungszentrums (NLZ) stehen können: "Lasst, die Ihr eintretet, alle Hoffnung fahren". 95 Prozent der 26.000 Talente, die im vergangenen Jahrzehnt in die 57 deutschen Nachwsleistungszentren eintraten, hatten vergebens gekämpft und gehofft, den Sprung in den Profifußball zu schaffen. Nur fünf Prozent konnten sich im bezahlten Fußball behaupten.

Roland Reng, als vielfach preisgekrönter Autor längst in der sportjournalistischen Champions League etabliert, schreibt über sein neues Werk "Der große Traum", dass es sein schönstes Buchprojekt war. Fast zehn Jahre begleitete er die drei hoffnungsvollen Talente Marius Wolf, Niko Reislöhner und Fotios Katidis (genannt Foti) aus der nordbayerischen Provinz auf ihren unterschiedlichen Wegen mit dem Sehnsuchtsziel Profifußballer. Niko und Foti sehen ihren Jugendfreund heute im Fernsehen, in der Bundesliga oder gar in der Champions League bei Borussia Dortmund. Marius Wolf, in der U16 des 1. FC Nürnberg als zweitlangsamster Spieler aussortiert, ist mit 26 Jahren und digital gemessenen 34,92 km/h zu einem der 25 schnellsten Bundesligaspieler geworden. Dies zum NLZ-Ausschlusskriterium "zu langsam"!

Ein NLZ-Trainer zu sechs U16-Jungs: "Tut uns leid, Ihr seid nächste Saison nicht mehr dabei!"

Ohne Petra Steinhöfer hätte es Rengs Meisterwerk nicht gegeben. Die Mutter des einstigen Profis Markus Steinhöfer und Betreiberin der Ein-Frau-Agentur Tutor brachte den Autor nach einer Lesung auf die Idee, ein Buch über von ihr betreute NLZ-Jugendspieler schreiben. Schnell gesagt, lange getan. Marius, Niko und Foti pendeln 2013, als Ronald Reng ihre wechselvolle Geschichte aufzuschreiben beginnt, von ihren Heimatdörfern in die Leistungszentren des 1. FC Nürnberg und der SpVgg Greuther Fürth.

Niko: Der mit 16 Jahren über 1,80 m große Innenverteidiger spielt im August 2013 mit Greuther Fürth erstmals in der U17-Bundesliga. Ronaldo-Fan Foti, seit 2009 in der Akademie des 1. FC Nürnberg: Ein dribbelstarker Stürmer den seine Mistpieler einst Messi riefen. Sein Vater Ioannis ist zufällig Zeuge, wie sechs Jungs aus der FCN U16 nach einem Spiel ins Büro gerufen werden. Dort verkündet man ihnen: Tut uns leid, Ihr seid nächste Saison nicht mehr dabei! Sein Sohn Niko ist nochmal davon gekommen.

Ein Insider: "Talente sind wie Aktien!"

Jeden Mai werden auf einen Schlag rund 1000 Talente aus den U 19- und U 23-Mannschften entlassen. Niko und Foti sind im Frühling 2016 zwei von 1.000 Suchenden. Im September 2016 sind alle drei, auch der verheißungsvolle Marius, am selben Punkt angelangt: Mäßig bezahlte Berufsfußballer in der Regionalliga. "Talente sind wie Aktien", so ein Insider: "Sie werden für ihr Zukunftspotenzial gehandelt. Wenn sie ihr Können ein Jahr lang nicht entfaltet haben, stößt man sie ab wie Schrottaktien."

Das Besondere an Ronald Rengs einfühlsamen Langzeit-Beobachtungen ist, dass er Marius, Niko und Foti knapp ein aufregendes Jahrzehnt in ihrer fußballerischen, aber auch persönlichen Entwicklung vom Teenager im familiären Umfeld zum jungen Erwachsenen auf literarisch eindrucksvolle Weise dokumentiert. Die drei Jungs öffnen sich dem Autor, weil er mit Empathie, Geduld, Respekt und Teilhabe an ihrem von frühmorgens bis spätabends durchgetakteten Leistungsalltag zwischen NLZ, Schule und Wohnung ihr Vertrauen gewinnt.

Reng: "Ungerechtigkeiten gehören zum System des Leistungsfußballs!"

Die Talente spielen in den Bundesligen U15, U17, U19. Alljährlich beginnt kurz vor Saisonschluss das große Zittern: Darf ich bleiben? Packe ich die Schule? Kriege ich einen Ausbildungsvertrag? Doch das Härteste im NLZ ist das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden. Ronald Reng bestätigt: "Ungerechtigkeiten gehören zum System des Leistungsfußballs."

Foti (24) hat sich nach seiner Ausbildung in der Regionalliga verdingt: Wacker Nordhausen, SV Seligenporten. Er ist Versicherungskaufmann. Seine Endstation als Fußballer: Der SV Pullach, Bayernliga Süd. Der ebenfalls 24jährige Niko spielt für seinen Heimatverein DJK Stopfenheim, Kreisliga Neumarkt/Jura West, und ist – wie schon sein Vater – Fliesenleger, der seinen Beruf liebt.

Nur einer kommt durch. Marius Wolf ist jetzt 26. Der draufgängerische Außenbahner spielte für 1860 München, Hannover 96, Eintracht Frankfurt, Hertha BSC Berlin (in den von Reng geschilderten einsamen Zeiten der Corona-Isolation), 1.FC Köln und steht nun bei seiner Kindheitsliebe Borussia Dortmund unter Vertrag. Am 19. Mai 2018 das DFB-Pokalfinale im Berliner Olypmiastadion zwischen Bayern und Frankfurt. Sein bisher größter Erfolg als Profi: In seinem letzten Spiel für Eintracht Frankfurt gewinnt er nach dem sensationen 3:1-Sieg gegen den FC Bayern München den DFB-Pokal.

Der Autor entlässt die faszinierten, aber auch desillusionierten Leser/innen mit einem zuversichtlichen Blick in die Zukunft: "Eigentlich haben alle drei schon wieder dasselbe Gefühl wie zu Beginn des Buchs: Jetzt geht das Leben los." Dantes Hölle war für Marius Wolf, Niko Reislöhner und Fotios "Foto" Katidis auch der Himmel ihrer Träume.

Joseph Weisbrod

Info: Ronald Reng: Der große Traum – Drei Jungs wollen in die Bundesliga. 2021. 528 Seiten. Hardcover mit Schutzumschlag. 22 Euro. Piper Verlag, München

Für fast alle Jugendspieler bleibt der Aufstieg zum Fußballprofi ein großer Traum.
Für fast alle Jugendspieler bleibt der Aufstieg zum Fußballprofi ein großer Traum. – Foto: Eulentrop

Aufrufe: 021.12.2021, 08:00 Uhr
Joseph WeisbrodAutor