Der Rücken ist durchgedrückt, der Schritt federnd, das Kampfgewicht wahrscheinlich immer noch in der Nähe des Bestwerts aus aktiven Zeiten – da waren es 72 Kilogramm. Wenn Rainer Bonhof durch den Borussia-Park in Mönchengladbach marschiert, dann sieht er nicht aus wie jemand, der schwer auf die 70 geht. Allenfalls das ordentlich durchgebleichte Haar beweist, dass er nun doch ein älterer Herr ist. Golf scheint ein gutes Rezept gegen das Altern zu sein.
Für Fußballfans zählt Bonhof ohnehin zu den Unsterblichen. In diesen Rang hat sich Emmerichs größter Fußballexport aller Zeiten an einem Sonntag vor 47 Jahren gespielt, auf dem Rasen des Münchner Olympiastadions. Wer dabei war, im Stadion oder am Fernseher (fast das ganze Land also, auf den Straßen hätte man in aller Ruhe ein Picknick veranstalten können), vergisst die Szene kurz vor der Halbzeitpause des WM-Endspiels gegen die Holländer nicht. Bonhof sprintet auf der rechten Seite mit dem Ball in Richtung Grundlinie. Sein Rückpass erreicht Gerd Müller, und der macht, was er immer machte: Er schoss ein Tor. Es war sein wichtigster Treffer, das 2:1 in diesem Finale, es bedeutete am Ende die Weltmeisterschaft für die Deutschen.
Und Bonhof hatte entscheidende Beiträge geleistet – auch gegen die Niederlande, den großen Favoriten des Turniers mit seinem Superstar Johan Cruyff. Ausgerechnet Bonhof, werden sich die westlichen Nachbarn vielleicht gedacht haben. Schließlich hatte der Senkrechtstarter im deutschen Team noch fünf Jahre vor dem Endspiel die niederländische Staatsbürgerschaft, weil sein Opa Holländer war. 1969 bekam er den deutschen Pass, und er spielte sein erstes Juniorenländerspiel gegen Holland. Schöner kann man sich das nicht ausdenken.
Beim DFB waren sie natürlich froh, dieses Talent an Land gezogen zu haben. Es hatte sich längst herumgesprochen, dass da an der Fulkskuhle beim SuS (der später mit Rot-Weiß zur Eintracht fusionierte) ein außerordentlicher Spieler heranwuchs. Einer mit großer Dynamik und einem harten Schuss.
Der rohe Edelstein musste allerdings noch mit Nachdruck bearbeitet werden. Diese Aufgabe übernahm Hennes Weisweiler, der legendäre Trainer der nicht minder legendären Gladbacher Fohlen. „Er hat Borussia gemacht“, sagt Bonhof. Und er hat auch Bonhof gemacht, der Bestandteil der besten Mönchengladbacher Mannschaft der Geschichte wurde. Die größte Sternstunde ist bis heute auch die größte Niederlage. Typisch Gladbach übrigens, das immer mit diesen Brüchen leben musste. Mit 7:1 wirbelte der internationale Nobody 1971 das anerkannte Weltklasse-Ensemble von Inter Mailand im Wettbewerb der Landesmeister vom Rasen des Bökelbergs. Aber es kam zum verhängnisvollen Büchsenwurf, Roberto Boninsegna nahm die Gelegenheit dankbar wahr, sank vermeintlich schwer getroffen zu Boden und ließ sich in die Kabine tragen. Unparteiische Ärzte hatten keinen Zutritt. Deshalb folgte die Uefa der Diagnose der italienischen Medizinmänner und nahm das Spiel aus der Wertung. Nach einem 2:4 in Mailand und einem 0:0 an neutralem Ort in Berlin schied die Borussia aus. Beim Rückblick, erklärt Bonhof, „war anfangs noch Wut. Aber wie meine Eltern mir vermittelt haben: Die Zeit heilt alle Wunden“.
Immerhin hatte der junge Kerl vom Rhein auf sich aufmerksam gemacht. Es war logisch, dass er im Kader der Nationalmannschaft auftauchte, und für die Fans war es ebenso logisch, dass er zum WM-Aufgebot gehören musste. Mit 22 Jahren war das beileibe keine Selbstverständlichkeit. In den 1970er Jahren rutschte nicht jeder 19-Jährige, der drei auffällig gute Bundesligaspiele gemacht hatte, in die DFB-Auswahl. Deshalb beteuert Bonhof: „Ich war sehr überrascht und hab dann erst mal ein Fläschchen aufgemacht.“
Der Form war das offenbar nicht abträglich, der Mittelfeldspieler ging sogar mit einem kleinen Fitnessvorsprung in die direkte WM-Vorbereitung. Das hat er seinem Freund Berti Vogts zu verdanken. Zusammen waren sie noch vor der Nominierung in Urlaub gefahren. Und Vogts, der sicher davon ausgehen konnte, bei der WM dabei zu sein, ging täglich in der Nähe von Monte Carlo auf eine Laufstrecke. „Ich hab mitgemacht, damit er nicht so allein ist“, sagt Bonhof.
Das zahlte sich noch aus, als der 22-Jährige nach einer ziemlich müden WM-Vorrunde ins Team kam. „Ich weiß das noch wie heute“, erinnert sich Bonhof, „Bundestrainer Helmut Schön fragte mich: Trauen Sie sich zu, gegen Jugoslawien zu spielen? Ich sagte: Deshalb bin ich eigentlich hier.“ Mit Bonhof wurde Deutschlands Mittelfeld kompakter, wie man heute so sagt, dynamischer, und es war nicht mehr so anfällig wie zuvor. Gegen Jugoslawien gewannen die Deutschen in Düsseldorf mit 2:0, beim besten Zwischenrundenspiel gegen Schweden (4:2), ebenfalls in Düsseldorf, schoss Bonhof das Tor zum 2:1, in der Abwehrschlacht auf der Frankfurter Seenplatte half er maßgeblich, den 1.0-Sieg zu retten. Und die Geschichte des Endspiels ist erzählt.
Danach tauchte die DFB-Elf erst so richtig aus ihrer Blase aus Vorbereitung, Training, Spiel, Training auf. „Nach dem Finale auf dem Weg zum Bankett haben wir gemerkt, was los war. Es hatte sich etwas getan im Land, das ist mir erst da bewusst geworden“, sagt der Weltmeister.
So richtig bewusst wurde es ihm wohl bei der Rückkehr in die Heimat. Seine Emmericher Freunde hatten seine Adresse in „Rainer-Bonhof-Straße“ umbenannt. Hunderte standen vor seinem Haus, „und am Hintereingang haben sie mich auch erwischt“. Zwei Tage darauf brachten regelrechte Menschenmasssen beim Empfang für den großen Sohn der Stadt am Rathaus einen Teil der Treppe zum Einsturz. Der Schaden hielt sich zum Glück in Grenzen. „Die Musikkapelle, die am Rand der Treppe stand, hat gut reagiert“, sagt Bonhof, „lediglich eine Trommel ging kaputt.“
Der schussgewaltige Mann von der Fulkskuhle war endgültig bei den Großen angekommen, und er hatte im zarten Alter von 22 Jahren eigentlich schon alles erreicht, Meisterschaften mit der Borussia, den EM-Titel als Ersatzmann und die Weltmeisterschaft. Was sollte da noch kommen?
Eine Menge. Weitere Meisterschaften mit den Gladbachern, ein Uefa-Cup-Sieg mit der Borussia, der Wechsel zum FC Valencia, Siege im spanischen Pokal und im Europapokal der Pokalsieger, eine lange Laufbahn als Trainer-Assistent von Berti Vogts beim DFB und in Schottland, die Tätigkeit als Scout für den FC Chelsea und schließlich das Amt des Vizepräsidenten bei Borussia Mönchengladbach, mitten in seiner sportlichen Heimat. „Ich bin heimatverbunden“, versichert Bonhof, „deswegen hat mich der Weg immer zurückgeführt.“
Funktionär wurde er in schwierigeren Zeiten. Als Bonhof zum Vizepräsidenten mit dem Schwerpunkt sportliche Kompetenz aufstieg, war die Borussia ein Klub, der immer gefährlich nahe an der Bundesliga-Abstiegskante segelte. Seine Einschätzung aus dem Jahr 2004, als der Verein vom Bökelberg in den Borussia-Park umzog, sollte sich als ein bisschen sehr zuversichtlich erweisen. „In zwei, drei Jahren kann Borussia wieder international spielen“, erklärte er bei der Eröffnung der Arena. Es sollte noch ein paar Jährchen länger dauern, 2012 war es wieder so weit. Seither ist sein Klub beständig auf einem einstelligen Tabellenplatz gelandet. Und Bonhof hat sich auch um diesem Höhenflug verdient gemacht. Dabei bleibt er gern im Hintergrund, als Mannschaftsspieler wie zu seinen aktiven Zeiten. Das Scheinwerferlicht überlässt er meist den anderen. Trotzdem mangelt es ihm nicht an Selbstbewusstsein, auch in dieser Hinsicht erinnert der Funktionär Bonhof an den Spieler Bonhof.
Deshalb ist es eine geradlinige Karriere. Und es ist ihm durchaus bewusst, was für ein großer Weg das war aus dem kleinen Emmerich in die Welt des Profisports mit all den verschiedenen Jobs und Stationen. „Spaß gemacht hat jeder Job“, betont Bonhof, „ich habe es nie bereut, Fußballer zu sein. Ich bin dankbar dafür, dass mir der Fußball die Gelegenheit gegeben hat, so viel von der Welt zu sehen. Das wäre mir in meinem Beruf als Schlosser nie gelungen. Da wäre ich wahrscheinlich 14 mal nach Ameland in Urlaub gefahren.“ Dabei hat die Nordsee natürlich auch ihre Reize. Selbst für einen, der im Fußball alles gewonnen hat.