2024-04-30T13:48:59.170Z

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Der ganz, ganz große Traum

Wie ein Kreisligist sogar die Champions League gewinnen kann

Eric Cantona schraubt die Plastikkugel auf, entfaltet den Zettel und zieht die Augenbrauen hoch. Mit Dnipro Dnipropetrowsk ist er gerade noch fertig geworden, diesem ukrainischen Fußball-Synonym für einen Zungenbrecher. Aber die "Sportgemeinschaft Nieder-Kainsbach/Affhöllerbach"? Nie gehört! Cantona nuschelt etwas auf Französisch, der Simultandolmetscher übersetzt: „Wer ist das? Wo zur Hölle kommen die her?“
Es ist Freitag, der 7. August 2020, und im Grimaldi Forum in Monte Carlo wird die Gruppenphase der Europa League ausgelost. Cantona steht auf der Bühne als Vertreter seiner Heimatstadt Marseille, wo im Stade Vélodrome am 15. Mai 2021 das Endspiel stattfindet. Doch daran verschwendet die kleine Fraktion aus Brensbach in diesem Moment keine Gedanken. Zu groß ist allein die Sensation, dass sich der Kreisligist aus dem Odenwald mit dem Gewinn des DFB-Pokals fürs internationale Geschäft qualifiziert hat.

Alles Quatsch? Unmöglich? Okay, Quatsch ist es wirklich. Aber: es ist nicht unmöglich. Gibt man bei Google „Kürzester Weg nach Europa“ ein, erscheinen zunächst Artikel über den DFB-Pokal und dann erst Artikel über Flüchtlingsrouten. Sowohl die Underdogs als auch die Etablierten hauen diese Phrase gerne raus, und sie haben ja Recht: Nur sechs Siege sind nötig bis zur Erfüllung des großen Traums, in der Bundesliga sind die Verhältnisse dagegen zementiert.

Der große Traum ist uns aber nicht groß genug, wir träumen mit der SG Nieder-Kainsbach und allen anderen Kreisligisten den ganz, ganz großen Traum, an dessen Ende sogar der Gewinn der Champions League stehen soll - verbunden mit Einnahmen von über 100 Millionen Euro.

Für die Kleinsten der Kleinen ist der Weg nach Europa zwar ein äußerst weiter, aber die Schritte sind zählbar. Rückblende in die Zukunft: Nieder-Kainsbach hat bereits am 26. April 2018 das Kreispokalfinale in Michelstadt gegen den heimischen VfL überraschend mit 2:1 nach Verlängerung gewonnen. Fünf Schritte hat der A-Ligist schon hinter sich gebracht. Noch zwölf sind es bis in die Europa League.

2018/19 nimmt die SG Nieder-Kainsbach, die „Mannschaft des Jahres“ des Odenwaldkreises, am Hessenpokal teil. Sechs Siege sind dort nötig bis zum Titelgewinn und zur Qualifikation für den DFB-Pokal. Diese erreicht man unter anderem mit einem Erfolg gegen Regionalligist Kickers Offenbach im Halbfinale (1:0) und dem Sieg im Endspiel gegen den SV Wehen Wiesbaden (5:4 n.E.).

2019/20 folgen weitere sechs Siege im DFB-Pokal. Und mit dem Erfolg im Berliner Olympiastadion (2:1 gegen Borussia Dortmund) sichert sich Nieder-Kainsbach einen direkten Startplatz in der Gruppenphase der Europa League – und macht Eric Cantona in Monte Carlo einen Knoten in die Zunge.

Die Infrastruktur stößt an ihre Grenzen

Während die sportlichen Aufgaben utopisch erscheinen, kann man sich die logistischen heute schon genauer anschauen. Alleine die Durchführungsbestimmungen des DFB-Pokals und der Europa League sind jeweils mehr als 100 Seiten lang. Dort finden sich zusätzlich zahlreiche Verweise auf andere Dokumente wie die Spielordnung des DFB oder das UEFA-Stadioninfrastruktur-Reglement. Wie hell muss das Flutlicht sein? Wer holt die Schiedsrichter vom Flughafen ab? Wie viele Toiletten muss das Stadion haben? Auf welchen Ärmel kommt welches Logo? Nur der Ausgang der Spiele scheint nicht geregelt zu sein.

Als Jeremy Reubold im Mai 2021 den entscheidenden Elfmeter im Europa-League-Finale gegen Atlético Madrid verwandelt, hat die SG Nieder-Kainsbach bereits um die 30 Millionen Euro eingenommen. 32 von 45 Schritten sind dann geschafft. Der Europa-League-Sieger hat einen Platz in der Gruppenphase der Champions League sicher. Das bedeutet: weitere knapp 13 Millionen Euro, noch bevor das erste Spiel überhaupt angepfiffen wird.

Der heimische Sportplatz an der Affhöllerbacher Straße dürfte bereits in den späteren Runden des Hessenpokals an seine Grenzen stoßen, weil größere Klubs wie beispielsweise Kickers Offenbach zu viele Fans mitbringen. Ein Umzug in ein größeres Stadion der Region erscheint unausweichlich, ermöglicht aber auch immense Zuschauereinnahmen. Seitdem alle DFB-Pokal-Spiele im Pay-TV übertragen werden, sind schon die Anforderungen der Medien zu groß für die Kleinen. Allein für die Übertragungswagen muss ein 600 Quadratmeter großer Parkplatz zur Verfügung gestellt werden. Immerhin sind die Tore von der Kreisliga bis zur Königsklasse durchgehend 7,32 Meter breit und 2,44 Meter hoch.

17 Siege in Serie sind zu Beginn Pflicht

Bis ein Kreisligist als Champions-League-Sieger den Henkelpott in die Luft stemmen darf, muss er in fünf Jahren 45 Spiele bestreiten und davon die ersten 17 allesamt gewinnen. Im Europapokal genügen sogar Unentschieden. 1:1 beim FC Liverpool, 0:0 zu Hause – völlig ausreichend. Immerhin: Gewinnt man dann auch noch die größte europäische Vereinstrophäe, hat man in dieser Zeit über 100 Millionen Euro verdient.

Die A-Liga kann die SG Nieder-Kainsbach in dieser Zeit sogar schleifen lassen. Groß geträumt wird viel lieber unter der Woche, wenn im Odenwald das Flutlicht angeht.

Aufrufe: 018.6.2017, 12:45 Uhr
Jannik Sorgatz (FuPa Niederrhein) / Frank Leber (FAutor