2024-05-10T08:19:16.237Z

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Früher für den 1.FC Nürnberg als Spieler auf dem Platz, heute Bundestrainer in besonderer Mission. Foto: Ponchon
Früher für den 1.FC Nürnberg als Spieler auf dem Platz, heute Bundestrainer in besonderer Mission. Foto: Ponchon

"Wenn ich den Text vergesse, bewege ich die Lippen"

Die Nationalmannschaft der Fußballer mit intellektueller Beeinträchtigung war bei der EM dabei - gecoacht wird sie vom ehemaligen Clubprofi Jörg Dittwar

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Sportlich war die Teilnahme an der EM in Paris für Fußballer mit intellektueller Beeinträchtigung kein Erfolg. Doch nur um sportlichen Erfolg geht es dem Bundestrainer und früheren Clubprofi Jörg Dittwar auch gar nicht. Eine Reportage von Jonathan Ponchon

"Haut euch rein, gebt miteinander alles, wir müssen als Team auf­treten. Wer die Tore schießt, ist mir egal, wir haben den Adler auf der Brust. Wir vertreten Deutschland. Macht’s für euch Jungs, für Deutsch­land.“ Mit diesen Worten hat Nationaltrai­ner Jörg Dittwar seine Mannschaft im Trainingslager im rheinischen Hennef vor Trainingsbeginn motiviert. In Paris hat er in der Kabine ähnliche Wörter gewählt, um die Mannschaft vor den Begegnungen gegen einzustim­men. Seine Spieler, seine Jungs, haben gut zugehört, genutzt hat es aber leider nicht viel. Die Partien gegen Russland, die Türkei und Polen gingen alle verloren, aber das war auch nicht das Entscheidende bei die­ser gemeinsamen Reise, die Mitte August begonnen hatte.

Kurz nach der Ansprache in einem Trainingsspiel muss sich Nationaltor­wart Michael Schröder vom Bundes­trainer einiges anhören: „Weh, oh weh, oh weh! Was ist denn hier los! Wo läufst du denn hin? Schröder, du Bratwurst!“ Während des Trainingslagers haben sich die Nationalspieler zunächst ein­mal an einem Jugendspiel „Vier gewinnt“ versucht, das beide Gehirn­hälften aktivieren soll. Auf ein Kom­mando des Bundestrainers Jörg Ditt­war laufen die Startläufer los, kicken mit dem Ball zu einem der 16 Hüt­chen, sprinten zurück und klatschen sich mit dem nächsten ab, der dann erst losrennen darf. Die nächsten Läu­fer wiederholen das und versuchen die Bälle so zu platzieren, bis eine dia­gonale, horizontale oder vertikale Linie entsteht. Dabei hat es Michael Schröder versäumt, nach dem Platzie­ren des Balls den nächsten Mann­schaftskameraden abzuklatschen. Den Spielern fällt das gleichzeitige Fußballspielen und Kommunizieren schwer. Genau das wird bei diesem Spiel trainiert.

„Von draußen muss ich 90 Minuten helfen wie in der E-Jugend“

Die Fußballer der deutschen Fuß­ballnationalmannschaft für geistig Behinderte haben kognitive Schwie­rigkeiten, die ein Außenstehender nicht auf Anhieb erkennt, eher wirken sie wie eine Jugendauswahl des Deut­schen Fußball-Bundes: „Wenn Leute beim Training zuschauen, ,Deutsch­land‘ auf den Trikots lesen und Buch­staben auf dem Emblem sehen, fragen manche, ob wir vom DFB seien. Dann sagen wir, nein wir sind die National­mannschaft ID (intellectual disabili­ty). Wenn ich ihnen erkläre, dass die Jungs geistig behindert sind, können sie es nicht glauben“, berichtet Ditt­war von den Reaktionen, die seine Mannschaft auslöst.

Jörg Dittwar lief Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre insgesamt 150 Mal für den 1. FC Nürnberg auf. Er ist in Besitz der A-Trainer-Lizenz und hat damit die Berechtigung, eine Bun­desligamannschaft zu trainieren. Doch das interessiert ihn nicht: „Die Spieler sind mir ans Herz gewach­sen“, sagt er. Seit sieben Jahren ist er Cheftrainer der Nationalmannschaft ID und seine Aufgaben neben dem Platz sind ganz andere als die eines Trainers im nicht behinderten Be­reich: „Von draußen muss ich 90 Minu­ten den Jungs helfen wie ein Trainer in der E-Jugend, der auch alles voraus­sagen muss. Meine Rolle als Trainer ist es, für sie mitzudenken“, be­schreibt er seine Rolle neben dem Platz. Zugutekommt ihm dabei seine Erfahrung aus seiner Fußballschule in Coburg, wo er seit 20 Jahren täglich mit Fünf- bis 14-Jährigen trainiert.

Um bei der Nationalmannschaft mitkicken zu können, müssen die Spie­ler zum einen fußballerisches Können und zum anderen eine frühkindliche geistige Behinderung aufweisen. Die­se müssen die Trainer durch Tests bele­gen, die mit dem Spieler gemacht wur­den, als er noch im Kindesalter war. Als Kind dürfen die Spieler 75 IQ-Punkte nicht überschritten haben und müssen gegenüber Gleichaltrigen zurückgeblieben sein. Wenn die Fuß­baller in ihren Förderschulen als Talente positiv auffallen, werden die­se Kriterien überprüft. Erst wenn die Unterlagen international akzeptiert werden, darf der Spieler auflaufen.

Michael Schröder erfüllt all diese Kriterien. Der Lübecker steht seit 2005 für Deutschland zwischen den Pfosten und war seitdem bei allen internationalen Turnieren dabei: Bei der Weltmeisterschaft 2006 im eige­nen Land, bei der Europameister­schaft 2008 in England, bei der WM 2010 in Südafrika, bei der EM 2012 in Schweden, und schließlich auch bei der WM vor zwei Jahren in Brasilien. In Hennef im Trainingslager kämpfte er noch um seinen Stammplatz, in Paris saß er schließlich auf der Bank, weil er vor dem Turnier erkrankte.

Michael Schröder und seine Mann­schaftskollegen haben jeweils eine Vertrauensperson im Trainerteam, die sie jederzeit anrufen können, falls sie private Probleme haben. Darüber hin­aus meldet sich die Vertrauensperson auch regelmäßig beim Spieler, bei sei­nen Eltern oder Betreuern, um sich nach seinem Befinden zu erkunden. Auch wenn dies nicht zum offiziellen Aufgabenprofil der Trainer gehört und auch nicht entlohnt wird, ist der Kontakt abseits des Platzes genauso wichtig wie das stete Wiederholen von gewissen Spielzügen. Es ist schließ­lich schon vorgekommen, dass Spieler wegen Beziehungsproblemen wieder während eines Turniers nach Hause gefahren sind.

So war es auch diesmal. Bereits vor der Abfahrt waren Dittwar einige Spieler abhandengekommen. Darüber hinaus haben sich kurz vor Turnierbe­ginn noch Spieler verletzt. Bei keinem Spiel in Paris konnte Dittwar Spieler auswechseln, geschweige denn auf die beste Elf zurückgreifen. Andere Übungsleiter würden wahrscheinlich durchdrehen, aber Dittwar hat sich längst an die etwas anderen Umstän­de gewöhnt.

Trotz der unglücklichen Vorzeichen wurden in Paris die gleichen Routinen von Bundestrainer Dittwar abgespult. Die vertrauensvollen Gespräche fan­den mehrmals mit den einzelnen Spie­lern während des Turniers statt. Das ist nicht nur notwendig, um Vertrau­en zu seinen Schützlingen aufzubau­en, sondern auch um den Spieler die Anliegen noch mal zu erklären. Nach fünf Minuten hätten die meisten seine eingangs erwähnte Ansprache trotz­dem wieder vergessen, erzählt Ditt­war: „Die meisten nicken zwar, aber wenn ich frage, ob sie es verstanden haben, geben sie zu, dass sie sie doch nicht verstanden haben. Das ist ihnen dann jedoch nicht peinlich, weil sie nur mit mir alleine sind, und sich vor keinem bloßstellen,“ erklärt er mit einem Lächeln

„Wenn ich den Text vergesse, bewege ich eben die Lippen zur Melodie“

Einigen Spielern ist es unange­nehm, in der Öffentlichkeit als geistig behindert dazustehen. Für Schröder ist das kein Thema: „Man sollte kei­nen ausgrenzen, jeder hat doch irgend­wo eine kleine Macke. Wenn einer einen nicht akzeptiert, sollte man eine solche Person einfach ignorieren.“ Schröder ist jedes Mal stolz, wenn er für Deutschland auflaufen darf: „Den Adler auf der Brust zu tragen, für das Land zu spielen, das ist schon was Tol­les. Ich mache immer die Augen zu und genieße es einfach, die National­hymne zu hören. Ich singe auch mit, und wenn ich mal den Text vergessen habe, dann bewege ich eben die Lip­pen zur Melodie. Dann komme ich wie­der in den Takt und singe weiter!“ Und so ist auch das unglückliche Abschneiden der Mannschaft zweit­rangig. Deutschland hat in Paris sämt­liche Spiele verloren. Die Gruppen­spiele gegen Russland (1:2), gegen die Türkei (1:5) und gegen Mitfavorit Polen (0:5) gingen allesamt verloren. Im Spiel um Platz 5 war Deutschland am Mittwoch gegen die Türkei immer­hin nur noch mit 1:2 unterlegen.

Dittwar blickt mit äußerst gemisch­ten Gefühlen auf das Turnier zurück. Seiner kleinen Truppe, die Deutsch­land vertreten hat, macht er keine Vor­würfe. „Sie haben alles gegeben und können wirklich stolz auf sich sein“, sagt er.

Ob er nach sieben Jahren weiter­macht, weiß er aber noch nicht. Sicher ist jedoch, dass er sich beim Deut­schen Behindertensportverband dafür starkmachen will, dass die deutsche Nationalmannschaft ID finanziell bes­ser unterstützt wird. Damit können die Spieler besser betreut werden und vielleicht könnte dann in zwei Jahren ein größeres Aufgebot zur WM nach Russland fahren.

Aufrufe: 06.10.2016, 12:45 Uhr
Jonathan Ponchon (NN)Autor