2024-05-02T16:12:49.858Z

Interview

Abstieg als Chance

RL SÜDWEST: +++ Teutonen-Geschäftsführer Jörg Fischer im Interview +++

WATZENBORN-STEINBERG - Jörg Fischer ist als Geschäftsmann Realist. Und als Geschäftsführer des SC Teutonia Watzenborn-Steinberg natürlich auch. Deshalb muss man sich gar nicht lange mit Zahlenspielereien beschäftigen, wenn Kassel insolvent, der FSV Frankfurt durchgereicht und Kaiserslautern II abgemeldet würde, bestünde noch eine Chance für die Teutonen. Oder doch? "Wir wollen die letzten beiden Spiele nach Möglichkeit gewinnen", sagt der 54-Jährige im Konferenzraum der Geschäftsstelle in Linden, "um sagen zu können, wir haben für alle Eventualitäten alles getan."

Ansonsten aber ist Fischer sich mit dem Sportlichen Leiter Stefan Hassler einig, dass die zweigleisige Planung für Regionalliga und Hessenliga derzeit schon eher auf einer Schiene läuft. Dabei sei "der Abstieg kein Beinbruch", sagt Fischer im Gespräch mit dem Gießener Anzeiger Im Gegenteil: Weiterhin ist die Begeisterung spürbar, die er mit dem Projekt verbindet. Den SC Teutonia Watzenborn-Steinberg und damit die Region Mittelhessen langfristig auf der höherklassigen Fußballkarte anzusiedeln, ist keine Eintagesfliege - "Wir steigen auf, wir steigen ab, wir steigen auf" solle nicht das Credo sein.

Und dann fallen viele Begriffe, die den Realisten mit dem Enthusiasten Fischer verbinden: "Nachhaltigkeit, visionäre Ideen, Fußball-Campus, Etablierung des Vereins als Fußball-Marke". Jörg Fischer nimmt man an diesem Vormittag trotz des fast sicheren Abstiegs ab, dass es das noch nicht war, dass das anders angelegt ist: Längerwährend.

Vor einem Jahr war die Freude groß: Watzenborn war in die Regionalliga Südwest aufgestiegen. Nun scheint der Abstieg sicher. Ist das schon angekommen?

Klar haben wir uns schon seit einigen Wochen mit dem Abstieg beschäftigt. Bei mir fing das nach den beiden Niederlagen in den richtungsweisenden Spielen in Nöttingen und Trier an. Wenn du gegen Mannschaften, die hinter dir stehen, verlierst und auch noch so verlierst, dann muss man sich, wenn man es seriös betrachtet, schon mit dem Gedanken vertraut machen. Aber für uns ist der Abstieg kein Beinbruch, sondern auch eine Chance uns neu aufzustellen. Wir wollten nicht aufsteigen, um dann mit 18, 19 Punkten wieder runter zu müssen. Das führt zu einer Negativspirale und kann auch Auswirkungen auf die kommende Runde haben. Ich hoffe, wir gewinnen die letzten beiden Spiele, gehen dann mit 38 Punkten ordentlich und erhobenen Hauptes aus der Regionalliga raus. Das sind wir uns schuldig, auch weil wir damit alle Unwägbarkeiten ausschließen. Dann haben wir uns nichts vorzuwerfen, außer, dass wir einige entscheidende Spiele auf den letzten Drücker verloren haben.

Wo sehen Sie die Gründe für den Abstieg?

Zunächst einmal muss man sagen, dass uns der Erfolg der letzten drei Jahre überrannt hat. Vor drei Jahren saßen wir noch zusammen und hatten gerade die Verbandsliga gehalten. Dann sind wir durchmarschiert. Das ging alles rasend schnell. Und zu den Gründen? Ich glaube, ein wichtiger Punkt war, dass Daniel Steuernagel uns verlassen hat. Und das nach einem tollen Sieg gegen Offenbach. Das war eine sehr, sehr komplizierte Situation. Wir haben uns dann sehr schnell und intensiv mit der Trainerfrage beschäftigt, haben viele Optionen geprüft, hatten das Gefühl, Copado sei die beste Lösung. Alles, was dann kam, war nicht vorherzusehen. Mit der Degradierung von drei Spielern, mit dem Wechsel des Spielführers. Da wurden Baustellen geschaffen, die zu großer Unruhe im Verein geführt haben. Und all das führte auch dazu, dass wir in relativ kurzer Zeit den Fallschirm ziehen mussten, sonst hätten wir die Kurve wohl gar nicht mehr hinbekommen. Es war eine enorm schlechte Stimmung in der Mannschaft. Das war auch nicht einfach für Stefan Hassler und Gino Parson, in dieser Situation das wieder ordentlich ins Laufen zu bekommen. Auch mit den neuen Spielern, die im Winter verpflichtet worden sind.

Trotzdem haben die Teutonen etwas Besonderes geschafft und geschaffen, was waren Ihre Highlights?

Alleine das erste Spiel gegen TSV Steinbach vor über 3000 Zuschauern. Dieses Wechselbad der Gefühle, als wir in Durchgang eins klar hätten zurückliegen müssen und am Ende 3:0 gewonnen haben. Oder die Spiele gegen Offenbach und Saarbrücken, die wir erfolgreich gestaltet haben. Das absolute Highlight war aber auch das Spiel bei Waldhof Mannheim. Das war einmalig. Da war eine Stimmung im Stadion, als säße man in Mainz. Das zu erleben, dass da Watzenborn-Steinberg aufläuft, war schon etwas Besonderes. Ich habe ein Bild gemacht von der Videowand, als wir das 1:1 geschossen haben. Dass da Waldhof Mannheim gegen Watzenborn steht mit den entsprechenden Wappen, das war doch noch vor kurzem unvorstellbar. Wenn man einmal diese Luft geschnuppert und dieses Flair miterlebt hat, dann will man da auch wieder hin. Auch die Spieler und Trainer, die man zu Gesicht bekommen hat, die teils schon in der Bundesliga gespielt haben. Das sind schon einzigartige Momente.

Bei einem Zwischenbilanzgespräch im Herbst sagten Sie, wenn wir absteigen, streben wir den Wiederaufstieg an, ist das weiterhin Ihr Credo?

Was wir vor drei Jahren begonnen haben, hochklassigen Fußball in Mittelhessen zu platzieren, das wollen wir auch fortführen. Das ist unser Credo. Das Ganze ist mittel- und langfristig ausgelegt. Es macht keinen Sinn, jetzt wieder einfach alles laufen zu lassen. Natürlich gibt es immer auch kritische Stimmen, wenn man so etwas angeht. Am Anfang wollen alle das Neue sehen, dann lässt das Interesse nach. Aber trotzdem wollen wir an dem Punkt weitermachen, weil es unser Ziel ist, das Projekt langfristig auf den Weg zu bringen. Wenn wir absteigen, dann wollen wir uns so aufstellen, dass wir gleich wieder vorne mitspielen. Ob es dann gleich zum Wiederaufstieg reicht, ist natürlich nicht vorhersehbar.

Also kein Muss...

Nein, es muss nicht sofort klappen. Denn es gibt dabei auch noch andere Aspekte, die uns wichtig sind: Einmal, dass der Verein als Marke in der Region Mittelhessen wahrgenommen, akzeptiert und anerkannt wird. Ein Thema ist für uns auch, die zweite Mannschaft nachzuziehen. Wir hoffen, dass der Aufstieg in die Gruppenliga über die Relegation noch klappt. Ein Ziel ist es auch, die Jugend, die in der JFV Mittelhessen jetzt seit drei Jahren eine erfolgreiche Arbeit macht, weiter zu etablieren. Auch das ist es, was wir weiter aufbauen wollen. Schlussendlich ist es so, das ist jetzt visionär gedacht, einen Fußball-Campus aufzubauen. Das, was die TSG Wieseck seit vielen Jahren in der Jugend macht, wollen wir auch auf die Aktiven ausdehnen. Ein Fußball-Campus, der erfolgreiche Jugend- und Aktivenarbeit verbindet, das sind die Wünsche und Visionen. Es geht nicht darum zu sagen: Man steigt mal auf, man steigt mal ab. Das kann es nicht sein. Das alles ist nicht in kurzer Zeit zu machen, wir wollen damit auch für Nachhaltigkeit sorgen.

Die Professionalisierung hat also Bestand?

Ja, wir haben auch im nächsten Jahr Spieler, die Profis sind. Und deren Verträge gelten auch für die Hessenliga. Aber auch Spieler wie Rafael Szymanski sollen mit angepassten Trainingszeiten die Möglichkeit haben, bei uns zu spielen. Die Profis können trotzdem vormittags trainieren, aber wir wollen die professionellen Bedingungen ein wenig abspecken, damit auch die berufstätigen Spieler dabei bleiben können. Die Strukturen müssen wir aber schon deshalb übernehmen, weil es keinen Sinn macht, jetzt alles zurückzufahren und dann bei einem erneuten Aufstieg wieder bei Null anzufangen.

Die Trainerfrage ist geklärt, was aber ist mit Co-Trainer Babacar N'Diaye?

Hassler/Parson haben einen Vertrag bis 2018, die stehen natürlich nicht in Frage. Mit Baba führen wir Gespräche, wir würden ihn gerne halten. Ich bin guter Dinge, dass das funktioniert, denn er würde auch gerne bleiben. Es harmoniert bestens im Trainerteam und Baba ist menschlich und als Trainer eine überragende Persönlichkeit.

Wie sehen Sie die Resonanz, insbesondere in den letzten Wochen. Gegen Elversberg waren gerade mal 370 Zuschauer da, davon 100 Gästefans?

Ich glaube, es gibt viele Gründe für die schwindende Resonanz. Viele werden den Klassenerhalt schon abgeschrieben haben, Dann schwindet auch das Interesse. Viele kommen eher, wenn man eine Klasse tiefer vorne mitspielt, als wenn man höher gegen den Abstieg spielen muss. Ich glaube auch, dass der Standort Wetzlar von vielen Zuschauern aus Gießen nicht so angenommen wird. Wir hatten die Notwendigkeit, da hinzugehen und es war auch eine gute Lösung für uns, für die wir dankbar sind. Wir haben aber auch gesehen, dass Watzenborn selbst bei Spielen im Februar gut angenommen wurde. Wir versuchen, etwas Nachhaltiges zu schaffen, aber das geht natürlich nicht von heute auf morgen. Auch Elversberg ist ein Dorfverein, dessen Fanbase über Jahre gewachsen ist. Das können wir in Mittelhessen mit Watzenborn nicht in zwei, drei Jahren erreichen. Das braucht Zeit. Aber natürlich spielt es auch eine Rolle, dass man lieber zu einer Mannschaft geht, die gewinnt und erfolgreich ist.

Gibt es schon Gedankenspiele, den Spielort auf längere Sicht zu ändern? Die zweimal 850 Zuschauer in Watzenborn inklusive guter Stimmung waren doch auch ein Fingerzeig...

Ja, das ist so. Es war ein Versuch, wie es angenommen wird, wenn wir in Watzenborn spielen. Ich denke, wir haben das infrastrukturell sehr pfiffig hinbekommen. Und man darf es auch offen und ehrlich sagen, dass wir in Wetzlar gegen Walldorf und VfB Stuttgart II vielleicht nur die Hälfte an Zuschauern gehabt hätten. Das war für uns auch der Hinweis, um zu sagen, über kurz oder lang wollen wir auch Regionalligafußball in Watzenborn anbieten. Das ist unser Ziel.

Hätten Sie lieber Francisco Copado die 30000 Euro für den Klassenerhalt bezahlt, oder ist der Abstieg nicht angenehmer, weil kostengünstiger?

Das ist jetzt wirklich süffisant gefragt, aber damit habe ich mich zuletzt wirklich nicht mehr beschäftigt. Aber ich hätte Copado natürlich auch das Geld überwiesen, wenn wir die Klasse gehalten hätten. Nicht abzusteigen, wäre mir dann doch lieber gewesen.

Aufrufe: 013.5.2017, 11:03 Uhr
Gießener AnzeigerAutor