2024-05-02T16:12:49.858Z

Allgemeines

Lange Geschichte des Verzichts

HISTORIE: +++ Bevor Teutonia Watzenborn-Steinberg in Regionalliga aufstieg, scheiterten heimische Clubs aus unterschiedlichen Gründen +++

GIESSEN. Nachdem der VfB 1900 Gießen 1963 am Aufstieg in die Regionalliga gescheitert war, sollte es gut drei Jahrzehnte dauern, bis man an der Lahn wieder ernsthaft an höherklassigen Fußball denken konnte. Zwar hatten die Gießener 1982 nach 31 Jahren die Oberliga Hessen verlassen müssen und waren kurzzeitig sogar bis in die Bezirksklasse abgerutscht, aber Mitte der 1990er Jahre klopfte man wieder an das Tor von Hessens höchster Spielklasse. Man ließ seinerzeit beim Gießener Traditionsverein nichts unversucht, um den Aufstieg zu bewerkstelligen, auch wenn die Oberliga jetzt nur noch die vierthöchste Spielkasse im deutschen Ligafußball war.

Mit Horst Heese hatte ein prominenter und erstligaerfahrener Trainer angeheuert und Bernd Nickel, der langjährige Bundesligaprofi der Frankfurter Eintracht, gab an seiner Seite den Sportlichen Berater. Im Frühjahr 1995 war es schließlich vollbracht, der VfB 1900 war zurück in Hessens höchster Spielklasse.

„Fußball 2000“ als Fiasko

Was folgte, erscheint im Rückblick wie eine Groteske. Die Oberliga sollte nur Durchgangsstation auf dem Weg in – mindestens – die Regionalliga sein, das Spielerpersonal wurde unter Einsatz großer finanzieller Mittel aufgepeppt, schließlich lotste man mit Uwe Bein sogar einen leibhaftigen Weltmeister auf den Waldsportplatz. Im Kaufhaus Karstadt wurde er in einer eigens einberufenen Pressekonferenz vorgestellt und man präsentierte der Öffentlichkeit bei dieser Gelegenheit gleich noch ein Konzept zu „Fußball 2000“. Aber Papier ist bekanntlich geduldig und der sportliche Erfolg der ganzen Angelegenheit hielt sich, gemessen an den ehrgeizigen Zielen, in Grenzen. Zwar hatten die 1900er mit dem Abstieg nie etwas zu tun, mit der Meisterschaft und dem angepeilten Aufstieg in die Regionalliga aber genauso wenig. Uwe Bein hielt es folglich noch nicht einmal ein Jahr in Gießen und später sagte er, eigentlich hätte er schon nach vier Wochen wieder gehen müssen. In jenen Tagen mehrten sich auch die Stimmen, die von einer finanziellen Schieflage des Vereins sprachen, aber in der Saison 2000/01, pünktlich zum 100-jährigen Vereinsjubiläum, keimte mit dem Einstieg einer Sportmanagement GmbH aus Frankfurt wieder so etwas wie Hoffnung im Umfeld des VfB 1900 auf. Kurzfristig schien es, als würde sich der angestrebte sportliche Erfolg doch noch einstellen. Unter dem gerade 31-jährigen Trainer Stefan Hassler spielt der VfB 1900 lange um den Titel mit, aber die Spielzeit, die man als Tabellensechster beendete, mündet in einem Fiasko. Am Ende stand der mehr oder minder freiwillige Rückzug aus der Oberliga, die Einstellung des Spielbetriebs der Seniorenmannschaft und der Neustart in der B-Klasse im Sommer 2002.

Verzicht auf den Aufstieg

Fast zeitgleich vollzog sich wenige Kilometer lahnabwärts der Aufstieg des SC Waldgirmes, der – das hat man heute fast schon wieder vergessen – über Jahre eine absolute Spitzenmannschaft in der Oberliga Hessen war. Sieben Jahre in Folge stand die Mannschaft nie schlechter als Platz fünf, gekrönt von der Hessenmeisterschaft in der Spielzeit 2008/09 und zwei Vizemeisterschaften im Anschluss. Aber der Reihe nach.

Verstärkt durch den einen oder anderen Akteur, der bisher für den VfB 1900 aufgelaufen war, stiegen die Lahnauer 2002 erstmals in die Oberliga auf. Zwar ging es nach einer Saison zunächst wieder abwärts, aber bereits ein Jahr später war man zurück in Hessens höchster Spielklasse und belegte als Neuling einen erstaunlichen 3. Platz. Diese Platzierung bestätigte man noch zweimal, bevor es mit Platz 5 einen leichten „Rückschlag“ zu verdauen galt. Dann war es aber soweit. Mit sieben Punkten Vorsprung vor Bayern Alzenau und dem erfolgreichsten Angriff der Liga gewann die Mannschaft um Trainer Thorsten Krick, Torwart-Oldie Jörg Kässmann und Mittelfeld-Motor Steffen Schmitt in der Spielzeit 2009 den Hessentitel und war damit nach dem VfL Marburg 1959 und dem VfB Gießen 1963 überhaupt erst der dritte Club aus Mittelhessen, dem diese Ehre zu Teil wurde. Wie in Marburg und in Gießen so folgte aber auch in Waldgirmes auf den Titelgewinn kein Aufstieg – allerdings aus gänzlich anderen Gründen. Während Marburg und Gießen sportlich gescheitert waren, verzichtete man in Waldgirmes aus wirtschaftlichen und organisatorischen Gründen auf das „Abenteuer Regionalliga“.

Die mit einem Aufstieg in die 4. Liga verbundenen Auflagen seien für den Verein mit gutem Gewissen nicht zu erfüllen, so die Begründung der Verantwortlichen. Was immer man als Fußballanhänger von dieser Entscheidung halten mochte, sie machte in jedem Fall deutlich, dass die Kluft zwischen der höchsten Amateurklasse und dem semi-professionellen Spielbetrieb in der Regionalliga offensichtlich riesengroß war (und ist), zumal der Verzicht auf den Aufstieg à la Waldgirmes bundesweit alles andere als ein Einzelfall war.
Während man in Lahnau also auf den sportlichen Lohn des Titelgewinns verzichtete, spielte das Thema Regionalliga beim FSV Fernwald, der seit 2005 ebenfalls in der Oberliga Hessen spielte, letztlich nie eine Rolle. Zwar reichte es in der Spielzeit 2011/12 einmal zu einem beachtlichen 3. Platz, aber im Grunde wird man wahrscheinlich froh gewesen sein, überhaupt auf diesem Niveau über Jahre die Klasse gehalten zu haben. Als sich nach der Saison 2013/14 abzeichnete, dass die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für einen weiteren Verbleib in Hessens höchster Spielklasse nicht mehr ausreichen würden bzw. das Interesse daran nicht mehr vorhanden war, zog man die Konsequenzen.

Fernwälder Rückzug

Wie sich der Aufstieg der Teutonen aus Watzenborn-Steinberg in den letzten beiden Jahren im Einzelnen vollzogen hat und welchen Beitrag dabei die ehemaligen Spieler des FSV Fernwald (und des SC Waldgirmes) geleistet haben, muss an dieser Stelle nicht noch einmal erörtert werden. Festzuhalten bleibt, dass der vierte Hessenmeister aus Mittelhessen, dessen Glanzzeiten bisher in den späten 1930er und in die erste Hälfte der 1950er Jahre zu finden waren, das Wagnis Regionalliga eingeht und er damit der erste heimische Verein seit über 80 Jahren ist, der überregional am Ball sein wird.
Wie auch immer die Saison für die Mannschaft und den Verein verlaufen wird, für den Fußball an der Lahn ist der Aufstieg der Teutonia in die Regionalliga Südwest in jedem Fall ein Ereignis, das man guten Gewissens als historisch bezeichnen kann. Man kann deshalb nur die Daumen drücken, dass die kommende Regionalliga-Spielzeit keine einmalige Episode bleiben wird.

Aufrufe: 04.8.2016, 12:47 Uhr
Gießener AnzeigerAutor