2024-05-14T11:23:26.213Z

Allgemeines
Nicht auf dem Rasen sondern im Kopf: Die Freistoßlinie gibt es imaginär inzwischen in allen Klassen.	Karikatur: Heinrich Schwarze-Blanke
Nicht auf dem Rasen sondern im Kopf: Die Freistoßlinie gibt es imaginär inzwischen in allen Klassen. Karikatur: Heinrich Schwarze-Blanke

Die unsichtbare Freistoßlinie

Mit der Einführung des Freistoß-Sprays stimmen auch in unteren Klassen die Abstände – ohne weiße Linie

Worms. Noch vor wenigen Jahren war es immer das gleiche Ritual. Der Schiedsrichter pfeift in Tornähe Freistoß, legt den Ball an den Tatort und schreitet den Abstand zur Mauer ab. „Mauer zu mir und stehen bleiben“, lautet das Kommando, dass der Flonheimer Schiedsrichter Guido Daniel in solchen Fällen zu geben pflegt. Doch den zweiten Teil der Aufforderung pflegten die Fußballer meist zu überhören. In Trippelschritten ging es dann wieder nach vorn. „In solchen Fällen habe ich, wenn er Schiedsrichter nicht geschaut hat, einfach den Ball einen Meter weiter nach hinten gelegt, dann war der Abstand zur Mauer wieder so, wie wir das trainieren“, erinnert sich Standard-Spezialist Vllaznim Dautaj vom Landesliga-Spitzenreiter SG RWO Alzey.

Seit geraumer Zeit aber muss er den Ball aber nicht mehr zurücklegen. Denn wundersamerweise sind die Trippelschritte der Spieler in der Mauer nicht mehr zu sehen. Und zwar Ligaübergreifend. So auch gesehen beim Regionalligaspiel zwischen Wormatia Worms und den Stuttgarter Kickers – auf beiden Seiten. Erst durfte Wormate Sandro Loechelt so Maß nehmen wie er es im Training immer und immer wieder übt. Die Mauer blieb brav an der vom Schiedsrichter festgelegte Stelle stehen und machte es dem Schützen möglich, den Ball über die Köpfe hinweg in die Maschen zu bugsieren. Fünf Minuten später das gleiche Bild auf der anderen Seite. Auch die Wormser hielten den Abstand ein, Stuttgarts Josip Landeka traf.

Bei den internationalen Spielen und in den deutschen Profi-Ligen nachvollziehbar, dass er Abstand eingehalten wird. Schließlich wird dort seit zweieinhalb Jahren mit dem sogenannten Freistoß-Spray gearbeitet, ein überschreiten der weißen Linie hätte eine Strafe zur Folge. Doch unterhalb der Dritten Liga wird nicht markiert und trotzdem halten die meisten Spieler inzwischen die Füße still, gehen allenfalls auf die Zehenspitzen um die Mauerfläche zu erweitern. Doch warum ist das so? „Ich hab darüber noch nie nachgedacht, aber es hat tatsächlich eine Veränderung stattgefunden“, stellt Daniel auf den Sachverhalt angesprochen, verwundert fest. Als einzigen Erklärungsansatz sieht er die Vorbildfunktion, die der Bundesligafußball für die unteren Klassen hat. „Was in der Sportschau nicht gesehen wird, findet auch am Tag danach auf den Plätzen in den unteren Klassen nicht statt“, ist sein Erklärungsansatz, den er nicht exklusiv hat. Auch sein „Vorgesetzter“, der Kreisschiedsrichterobmann Kalli Appelmann, sieht in den Veränderungen in Profifußball zumindest einen Erklärungsansatz. „Das kommt sicher auch auf den einzelnen Schiedsrichter an. Ich hatte auch keine Probleme, als an das Spray noch niemand gedacht hat. Aber ich glaube auch, dass es schon ein wenig damit zu tun hat, was die Spieler in den Medien wahrnehmen.“

Auch der Kapitän des Fußball-Regionalligisten Wormatia Worms, Florian Treske, hat gemerkt, dass die Disziplin der Spieler in der Mauer in den vergangenen Jahren besser geworden ist. „Früher sind wir sicher wieder einen Meter nach vorn gegangen, jetzt sind es bestenfalls wenige Zentimeter“, sagt der Stürmer, der wegen seiner Körpergröße auch immer einer der Kandidaten für die Mauer ist. Auch er sieht eher die gewachsene Autorität der Schiedsrichter als Grund für das Phänomen. „Keiner will sich heutzutage mehr eine Gelbe Karte für so etwas abholen, ist sich der 29-Jährige sicher. Doch ganz ausschießen will auch er nicht, dass die gesprayten Linien in der Bundesliga ihren Beitrag leisten.

Es scheint tatsächlich so zu sein, dass eine Unart von den Fußballplätzen verschwunden ist, weil die großen Idole, sie ablegen mussten. Als habe sich eine imaginäre weiße Linie in den Köpfen der Spieler entwickelt, die nicht überschritten wird. Erinnert man sich an die Diskussionen, Frotzeleien und Vorbehalte, die mit der Einführung des weißen Sprays einhergingen, eine wahrlich erstaunliche Entwicklung.



Aufrufe: 028.3.2017, 12:00 Uhr
Carsten DietelAutor