2024-04-25T14:35:39.956Z

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Christof Wolff
Christof Wolff

Bis das Gras drüber wächst

Ortsbesuch in Neu-Otzenrath

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Wenn Orte für das Gemeinwohl umgesiedelt werden, verschwinden nicht nur Häuser, sondern auch Fußballplätze. Den Mitgliedern des SV 09 Otzenrath ist genau das vor knapp zehn Jahren passiert – und sie haben einfach weitergemacht.
Die Namen der vielen tapferen Männer in den kurzen Sporthosen fallen Herbert Brockerhoff nicht sofort ein. In vielen Fällen kann er sie nur vermuten, oder sich von den ältesten Gästen im Bistro „Alt-Otzenrath“ helfen lassen. Irgendein Fischermann, Melzener, Hütz oder Schrey war wohl so gut wie immer dabei. Dennoch findet der leise Endvierziger mit dem schütter werdenden Haar es „jemütlich“, dass die Schwarz- Weiß-Aufnahmen früherer Mannschaften an den Wänden hängen. Sie belegen, dass dieser Verein schon eine kleine Ewigkeit existiert – und mit ihm der ganze, beinahe vergessene Ort. Beziehungsweise „Ocht“, wie das auf seiner Zunge klingt.

Es gab schließlich mal eine Zeit, als niemand so recht wusste, ob es die Fußballer vom Spielverein 1909 Otzenrath noch gibt. Sie ist keine zehn Jahre her und fiel exakt mit der Zeit zusammen, als viele auch nicht wussten, ob es überhaupt noch Otzenrather Bürger gibt. So was passiert, wenn man für das so genannte Gemeinwohl umgesiedelt wird – und auf einmal weder Bürgermeister noch Trainer, sondern nur noch Bagger das Sagen haben. Kleinere Bagger, die Häuser wie Straßen unterpflügen. Und riesige Bagger, die sich immer tiefer in die Erde hinein beißen. Bis endlich Braunkohle kommt, die sich verstromen lässt. Braunkohle aus dem gerade erweiterten Tagebau „Garzweiler II“.

Tiefer Knick während der Umsiedlung

Herbert Brockerhoff, der erste Vorsitzende, möchte auf den Prozess der Umsiedlung im Detail gar nicht mehr eingehen. „Man lebt damit und ist in der Situation einfach drin“, sagt er nur knapp, spürbar um Sachlichkeit bemüht. Was sollte es heute noch bringen, von Ängsten und Mühen zu erzählen, die endlich, endlich überwunden sind? „Man verlässt da hinten was Altes und macht hier was Neues“, fasst er diese schwierige Phase zusammen. „Das geht natürlich nicht von heute auf morgen, sondern über Jahre hinweg. Können Se sich ja vorstellen...“

Also lieber von der erfreulichen Entwicklung reden, die der SV 09 in den letzten Jahren genommen hat – allen Unkenrufen zum Trotz. Und damit schiebt Brockerhoff ein frisch ausgedrucktes Blatt Papier über den Tisch. Auf ihm illustriert eine Grafik die Entwicklung in der Mitgliedschaft. Hier der tiefe Knick, zum Zeitpunkt der Umsiedlung, dort die erst bedächtig, dann entschlossen ansteigende Kurve. Ein steiler Schuss von knapp 100 auf aktuell rund 300 Beitrittszahler, mithin ein Quantensprung. Bewirkt durch „eine Handvoll Leute, die sich sehr engagiert haben“. Wie etwa Peter Klein, ein wuchtiger Mann jenseits der 50 mit breitem Schnäuzer, der für die Jugendarbeit zuständig ist und nicht zufällig neben ihm sitzt.

Noch zwei, drei Jahre, sagt Klein, dann haben sie mehrere Jungs aus der damals neu gegründeten F-Jugend bis in die Senioren hochgebracht; „F-Juhrend“ heißt das bei ihm. „Und dann muss wieder wat Neues kommen. Wir arbeiten gezielt darauf hin, dass das auch so passiert. Der Kern muss ja ´ne Gemeinschaft sein, sonst funktioniert das nicht. Aber die Jungs zwischen 16, 17 zu halten, wissen Se, das ist nicht so ganz einfach...“

Was für eine stille Ecke aber auch, und was für ein unscheinbarer „Ocht“. Man hat die Autobahn von Neuss nach Aachen an der Abfahrt Jüchen verlassen, gleich hinter Grevenbroich, und sich von dort Richtung Rheydt und Mönchengladbach orientiert. Dann kam das kleine Schild nach links, zwischen Getreide- und Rübenfeldern. Mitten hinein in jenen Sprachraum, wo das Kicken „pengen“ heißt und der nahe Bundesligist einfach „Brussja“ oder „Glabbach“. Hinein auch in den Kreis 4 des niederrheinischen Fußballverbands (FVN), wo selbst in der Kreisliga B schon ein flotter Ball gespielt wird – und der 8. Platz, den die erste Mannschaft des SV 09 zum Mai erreicht hat, keine Schande ist.

„Otzenrath“ steht heute schlicht an den beiden Enden der Ortschaft, die mit dem benachbarten Dorf Spenrath mal eben sechs Kilometer weiter gezogen ist. Den Zusatz „Neu“ wollte gerade hier keiner lesen. Und „Alt-Otzenrath“ steht über dem Bistro im kleinen, gerade acht, neun Jahre alten Zentrum. Das ist natürlich bloß eine Reminiszenz, denn viel Geschichte atmet das (noch) nicht. Was auch für die meisten der verklinkerten, aus den Abfindungen des RWE-Konzerns finanzierten Einfamilienhäuser gilt. Die Setzlinge rund um den „Markt“ sind inzwischen echte Bäume geworden, der Rasen auf dem zehn Jahre alten Fußballplatz hat bereits gelitten. Fast schon zu viel, wie sich Brockerhoff und Klein einig sind.

Ab November, wenn es glitschig wird, müssten die Junioren des SV 09 meist im nahen Hochneukirch trainieren, erzählt Klein, „sonst hält der Platz das gar nicht aus. Wir sind ja der einzige Verein in der Gemeinde, der keinen Kunstrasen hat.“ Auch eine Soccerhalle wird hin und wieder angemietet. Trotz dieser Umstände tummeln sich heute wieder elf Jugendteams und eine Mädchenmannschaft im Verein. „Diese Kinder und Jugendlichen sind stolz, für Otzenrath zu spielen“, sagt Brockerhoff, „da ist schon ´ne Verbundenheit da. Zumindest empfinde ich das so.“

Ein neuer Platz aus RWE-Geldern

Verbunden sein statt höherklassig: Es könnte das heimliche Motto des Amateurvereins sein. Braunkohle war noch kein Thema, als vor über 100 Jahren einige Kicker zuerst als Sturm Otzenrath das Spiel aufnahmen. Es folgten Spielzeiten, als die Schwarz-Weißen „in einem Atemzug mit Alemannia Aachen“ genannt wurden, wie Klein gehört haben will. 1933 dann der Aufstieg in die Bezirksklasse, die Urkunde des FVN dazu hängt für alle sichtbar im Bistro. Und ab und zu hat es doch mal einer in die erste Mannschaft von „Brussja“ gebracht – gerade oft genug um an diesen Weg zu glauben. Wie Willi Fischermann, der Mönchengladbach 1951 mit einem späten Tor in der Oberliga hielt.

2005 aber ist die erste Mannschaft bis in die dritte Kreisliga abgesackt – und die alte Ortschaft schon für die Bagger geräumt. Das waren schwere Monate, erinnert Brockerhoff. Sie lebten bereits im neuen Ort, wo mit RWE-Geldern auch ein Fußballplatz angelegt, aber noch keine Umkleide errichtet war, und mussten für die letzten Heimspiele jeden Sonntag in den alten Ort zurück – komplett mit den wenigen Anhängern, die ihnen dahin noch folgten. „Und überall lag der Schutt herum. Das war vor allem für die Alteingesessenen schwierig.“

Der halbe Ort strömt noch mal zusammen, als der neue Fußballplatz mit einem Freundschaftsspiel gegen die vom Energie-Konzern gesponserten Halbprofis von Rot-Weiss Essen eingeweiht wird. Ein RTL-Redakteur spricht den Live-Kommentar. Dann zieht Stille ein. Als Brockerhoffs Sohn aktiv werden will, gibt es statt eigener Jugendmannschaften nur eine Spielgemeinschaft mit dem benachbarten VfL Hochneukirch, die nicht lange funktioniert. So wie auch nur wenig Leben in den Otzenrather Schützen- und Kegelvereinen ist. Jeder ist gerade mit seinem eigenen Projekt beschäftigt: Bauen und Planen, Finanzieren und Einrichten.

Die Wiederbelebung im Container

An diesem kritischen Punkt haben sich die Brockerhoffs mit anderen Eltern und Interessierten getroffen, damit der Ball wieder ins Rollen kommt. Genau in diesem Bistro, das damals noch in einem Container untergebracht war. Und dann ließ sich auch Peter Klein nicht lange bitten, aus einer beruflich bedingten Pause zurückzukehren – nachdem er zuvor schon beinahe alles gewesen war, vom jugendlichen Aktiven bis zum Geschäftsführer. „Wir hatten erkannt, dass wir jetzt was machen müssen, wenn wir noch länger etwas vom Verein haben wollen“, erklärt er.

Klein wollte nicht einfach auf die paar üblichen Väter setzen, die sich selbst das Traineramt zutrauen. Er schickte junge Interessierte zu den Lehrgängen des FVN für den offiziellen C-Schein, damit sich von den Jüngsten an „eine jewisse Qualität“ im Verein aufbauen kann. „Damals sind wir von manchen ausgelacht worden“, sagt Klein – um postwendend die Zwischenbilanz zu präsentieren: Zwei Jugendteams sind zum Sommer in ihren Klassen Meister geworden, zwei weitere schlossen als Vize-Meister ab. „Ich sag immer: Unsere Städter wissen mittlerweile, wo Otzenrath liegt.“

Dass nun schon erste Youngster abgeworben werden, ist am Ende des Tages aber ein gutes Zeichen. Es belegt, dass hier, auf neuem Boden, etwas nachgewachsen ist. Jüngere Leute übernehmen kleine Ämter im Verein, neue Familien ziehen hinzu. Es sei für viele schon wieder eine Selbstverständlichkeit, sagt Brockerhoff zufrieden, sonntags zum Fußball zu gehen. So werden die Nahtstellen des neuen Otzenrath allmählich überdeckt.

„In anderen Orten, so Richtung Jülich, sind viele Gemeinschaften zerbrochen“, weiß Peter Klein. „Da gibt es nach wie vor viel Streit, viel Neid. Aber hier wird das langsam... Die junge Generation muss jetzt zusammenbacken, was durch die Umsiedlung unterbrochen wurde. Und dann ist das auch wieder da."

Aufrufe: 029.10.2014, 08:00 Uhr
Bertram JobAutor