2024-05-23T12:47:39.813Z

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Löwen-Geschichte live: Die Buchautoren Melchior (l.) und Bohlender mit 50er-Jahre-Legende Ottmar Gebhardt (90).
Löwen-Geschichte live: Die Buchautoren Melchior (l.) und Bohlender mit 50er-Jahre-Legende Ottmar Gebhardt (90). – Foto: Uli Kellner

„All-in geht meistens total schief“: Geschichtsstunde mit Stefan Lex & Altlöwen

1860-Historiker: Zeit lassen . . .

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Im „Bamboleo“ stellten die 1860-Historiker Claus Melchior und Thomas Bohlender am Wochenende ihr neues Löwen-Geschichtsbuch vor.

München – Am Ende fiel kaum noch auf, dass die Bude für ein Giesinger Heimspiel relativ schwach besucht war. Selfies hier, Signaturen und Smalltalk dort. Und wer da alles die Köpfe zusammensteckte! Der älteste noch lebende Spieler einer ersten Löwen-Mannschaft (Ottmar Gebhardt, 90). Der jüngste Kapitän im Ruhestand (Stefan Lex, 34). Zusammen mit Fans, die die goldenen 60er-Jahre genauso miterlebt haben wie die trostlosen Bayernliga-80er. Vereinsgeschichte live. Hinter den gut 30 Besuchern des Vereinslokals „Bamboleo“ lag eine Zeitreise: 125 Jahren Fußball-Geschichte des TSV 1860 München im Schnelldurchlauf. Ein zweistündiger Abend mit Anekdoten, vorgetragen von Zeitzeugen. Anlass war das Erscheinen des neuen Löwen-Geschichtsbuchs: „57, 58, 59, SECHZIG!“

Grüngoldene Einrichtung (Farben des Gesamtvereins), 60er-Bier in Bügelflaschen auf den Tischen. Gebhardt, der rüstige Altlöwe (Team 1952-56), berichtete von frühen Derbysiegen („Auch wenn wir nur zu zehnt waren“), von einem Freundschaftsspiel gegen Kaiserslautern mit fünf frisch gebackenen Weltmeistern („Ottmar Walter hat kein Tor gegen mich gemacht“), auch von einem prominent-kauzigen Verteidigerpaar bei Prestige-Gegner Rapid Wien: „Max Merkel und Ernst Happel. Ich mag ja die Österreicher, aber im Sport benehmen sie sich seltsam.“

Stefan Lex kramt in Jugenderinnerungen

Auch Fußballrentner Lex, der kickende 1860-Fan, kramte in Jugenderinnerungen. Wenn er auf der Rückreise aus den Bergen durch Fischbachau kam, habe er jedes Mal sein 60er-Logo geküsst: „Benny Lauth war mein Idol. Mich freut‘s, dass ich jetzt mit ihm in der Traditionsmannschaft spiele.“ Und: Die legendäre Sechzger-Bettwäsche, in der er als Bub geschlafen hat – „die gibt es noch immer. Wenn ich vor Spielen ins Gästezimmer ausgewichen bin, hat meine Frau die rausgekramt.“ Sein emotionalstes Erlebnis mit 1860? Der Pokal-Sieg gegen Schalke 2021 (mit Lex-Tor), „denn das schönste Spiel, das zum Aufstieg geführt hat, das hat es leider nie gegeben...“

Den Gastgebern, Fußball-Abteilungsleiter Thomas Bohlender und Autorenfreund Claus Melchior, ging es darum, „die gesamte Leidens- und Freudengeschichte des TSV 1860“ nachzuzeichnen. Aus diesem Anlass haben sie auch das Buch geschrieben. Chronologisch erzählt, mit Porträts der Vereinslegenden und teils neuen Erkenntnissen, die die beiden Historiker mit nerdiger Freude recherchiert haben. Eine ihrer Lieblings-Geschichten: Dass die Löwen von Rechts wegen ein zweimaliger Deutscher Meister sein müssten.

Der Titel von 1966 ist verbrieft, um einen weiteren sei der Verein 35 Jahre zuvor „betrogen“ worden. Der Schuldige: „Ein übergewichtiger Schiedsrichter, der im Endspiel 1931 zweimal nicht auf Ballhöhe war.“ Ihre Recherche stützt sich auf ausufernde Berichte des „kicker“, der 1860 im Duell mit Hertha klar im Vorteil gesehen hatte. Das Problem: Sowohl bei Herthas Ausgleichstreffer zum 2:2 als auch beim Siegtor hätte besagter Pfeifenmann den wild winkenden Linienrichter „ignoriert“. Aus Absicht? Wegen typischen Sechzger-Pechs, das dem Verein offenbar in die Wiege gelegt wurde? Bei solchen Fragen müssen auch die leidenschaftlichen Historiker passen. Genüsslich wiesen sie dafür nach, dass 1860 tatsächlich ein Urgiesinger Verein ist („Die ersten Bälle wurden auf der Schyrenwiese gespielt“) – und dass schon vor dem offiziellen Gründungsdatum der Ballspielriege (25. April 1999) „ein lebhaftes Aufblühen“ der „Fußball-Lümmelei“ (Turner-Spott) dokumentiert wurde.

„Druck hast du immer, aber dem musst du widerstehen“, rät Bohlender

Doch welche Schlüsse leiten die beiden Löwenkenner für die Zukunft ab? Melchior (70), der schon andere 1860-Bücher geschrieben hat, findet, dass sich das Predigen von Demut schlecht mit dem Ausrufen von Protz-Zielen verträgt (Nummer zwei in Bayern bis 2029). Bohlender, der drei Jahre Jüngere, gibt zu bedenken: „Als Historiker siehst du Beispiele des Gelingens – und des Versagens. Bei 1860 zeigt die Geschichte viele Beispiele des Versagens, aus denen man lernen könnte.“ Das Wort „könnte“ betont er. Sein Rat: „All-in gehen geht meistens total schief. Du musst Geduld haben, dir Zeit lassen. Siehe Freiburg, siehe Heidenheim, siehe Ulm. Druck hast du immer, aber dem musst du widerstehen. Andernfalls sind die Chancen extrem gering, dass du nach oben kommst.“

Und trotzdem: Sollte es wider Erwarten bald neue Erfolge geben, wären die beiden die Ersten, die bereit wären, ein neues Buch aufzulegen: „Liebend gerne! Es kann ja auch ein Bildband sein.“ Die Geschichte dieses nie langweiligen Vereins wird fortgeschrieben – zumindest das steht fest. (Uli Kellner)

Aufrufe: 08.5.2024, 07:57 Uhr
Uli KellnerAutor