2024-05-22T11:15:19.621Z

Spielbericht

Presswurst mit Spiegelreflex

1.SC Göttingen 05 – SVG Göttingen 1:0

24.Spieltag Landesliga Braunschweig Saison 2023/2024

Mittwoch, 08.05.2023 19:00 Uhr

Jahnstadion Göttingen

3.005 Zuschauer

“Bist du denn Göttingen-Fan?” Die Kollegin, der ich gerade erzählt habe, dass ich zum Göttingen-Derby fahre, ist verwirrt.

Sie hat mit Fußball nicht viel am Hut und versteht meine Erklärung garantiert nur zum Teil.

Ich versuche, ihr die Faszination Fußball näher zu bringen. Dass es einfach geil ist, Fußball zu gucken. Dass es nichts Besseres gibt, als einen Torjubel oder wenn zum Schein einer Fackel gesungen, geklatscht und gesprungen wird. Ich liebe diesen Sport einfach. Und wenn ich dabei noch meinem Hobby-Joby frönen darf, während ein Derby mit Fanszene in einem schönen Stadion gespielt wird, ist das einfach das Nonplusultra.

Ich hatte meinem alten Freund Chris, der in Göttingen wohnt und sich um die Sicherheit bei den Spielen des 1. SC Göttingen kümmert, vor knapp acht Jahren versprochen, mal den glorreichen 1. SCG 05 zu besuchen.

Und Männer halten ihr Versprechen, auch wenn es fast ein Jahrzehnt dauert.

Das Derby und der Feiertag am nächsten Tag boten sich auch jetzt einfach an. Zumal ich mir den Brückentag auch gekrallt hatte und daher viel Zeit hatte, um mich im Nachgang von der Tour zu erholen.

Spoiler - das war auch bitter nötig.

Aber erst einmal stieg ich am Mittwoch, direkt nach der Arbeit, mit Sack, Pack und meinem Kamerarucksack in den ICE.

Ein bisschen merkwürdig war das aber alles wieder mit der Bahn: Mein gebuchter ICE war schon vor über einer Woche gecancelt, aber 1:1 durch einen anderen Zug ersetzt worden.

Die Bahn-App war am Abreisetag davon allerdings sehr verwirrt, und auch das Bahnpersonal schien die Info erst kurz vor knapp erhalten zu haben.

Da durch diesen Wirrwarr eine Sitzplatzreservierung zu keiner Zeit möglich war, gab der Schaffner direkt nach der Abfahrt durch, dass freie Sitzplatzwahl herrschte.

Ich lief gerade durch die völlig leere erste Klasse und ließ mich nach dieser Ansage direkt in einen bequemen Sitz sinken. Die Zugbegleiterin, die dann zur Kontrolle der Fahrkarte kam, beharrte aber darauf, dass die Durchsage ihres Kollegen nicht für die erste Klasse galt.

Das sei auch unfair, für alle, die die First Class gebucht hätten. Ich sah mich um und erblickte niemanden, dem ich hier den Sitz streitig gemacht hätte.

Die Dame verstand nun gar nicht, dass man hier den Servicegedanken leben könnte und wegen der nicht vorhandenen Möglichkeit, einen Platz zu reservieren, auch die erste Klasse hätte freigeben können. Sei es drum. Ich verzog mich auf einen anderen Platz und erreichte Göttingen nur wenige Minuten nach der geplanten Ankunft.

Schnellen Fußes ging es ins Hotel, Tasche abwerfen und sofort wieder los.

Der Weg führte mich am Leineufer entlang, und die Umgebung war wirklich malerisch. Allerdings hatte ich nur ein halbes Auge dafür. Die anderen 1 ½ waren ständig auf der Uhr.

Ich hatte nämlich nicht mal mehr eine Stunde Zeit bis zum Anpfiff, eine halbe Stunde Fußweg von mir, und ich hatte keine Ahnung, wie es am Einlass aussehen würde.

Die Verantwortlichen des 1. SC Göttingen hatten aber ganze Arbeit geleistet, und der Einlass war top organisiert. Und dass, obwohl man hier mit 1000 Zuschauern gerechnet, auf 2000 gehofft hatte und von über 3000 am Ende völlig überrascht war.

Ich musste keine fünf Minuten warten, ehe ich ein Fotoleibchen in der Größe M bekam und das Stadion betreten konnte. Übrigens hatten alle anwesenden Fotografen meine Statur. Dadurch sahen wir mit den Leibchen alle aus wie Presswürste mit Spiegelreflex…

Bevor der Hobby-Joby aber startete, führte mich mein Weg zum Fanshop und anschließend zu Kumpel Chris.

Der hatte eigentlich alle Hände voll zu tun.

Trotzdem war die Begrüßung natürlich herzlich, und wir beide freuten uns, dass wir uns endlich mal wieder sahen.

Dann begann das Spiel, aber ich muss gestehen, dass ich am heutigen Abend kaum einen Blick für den Sport hatte. Ich war völlig geflasht vom Jahnstadion, dessen Dachkonstruktion an den alten Karlsruher Wildpark erinnert. Und natürlich von der Fanszene des1. SC Göttingen.

Diese zeigte zu Beginn eine Wechselchoreo, die am Dach hochgezogen wurde. Zuerst wurde ein großes Spruchband emporgezogen: “Lasst uns fliegen…” Dieses wurde ersetzt durch den Spruch: “Zu neuen Zielen”. Als dieser Spruch dann oben war, folgten die ersten Fackeln und eine goldene Gans mit einem Ultras SC Göttingen Schal. Ich schätzte, in Anspielung auf die berühmte Gänseliesel, die meistgeküsste Frau der Stadt.

Als die Choreo beendet war, schmetterten die Fans einen Gesang nach dem anderen ins Weite Rund. Es war utopisch. Ich musste mir immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass das ein Spiel der Landesliga ist. Und trotzdem stand da dieser kompakte Haufen hinter einer Reihe schöner Zaunfahnen und supportete mit unglaublicher Leidenschaft, vielen Wink-Elementen und jeder Menge Pyro das Team.

Davon angeheizt entwickelte sich ein rassiges Derby auf dem Feld mit guten Aktionen auf beiden Seiten. Im zweiten Durchgang nutzten die Gastgeber eine davon zum vielumjubelten 1:0.

Natürlich brachen dadurch im Fanblock noch mehr Dämme und die Stimmung stand hier eigentlich schon ein paar Grad über dem Siedepunkt.

Sportlich ist die Saison für beide Mannschaften zwar schon gelaufen, aber den Derbysieg hätten beide trotzdem gerne gehabt. Daher schmiss die SVG auch nochmal alles nach vorne, aber die 05er hielten die Null.

Die Mannschaft ließ sich von der Fan-Kurve feiern und auf das Kreispokalhalbfinale einschwören. Für mich ging es zurück ins Hotel, um schon mal ein bisschen zu “arbeiten”, ehe ich mich nochmal auf den Weg machte. Ich war schon ewig nicht mehr nach 22 Uhr losgezogen.

Aber Chris hatte mich noch auf ein oder zwei Bier in den Fan-Raum eingeladen, und das konnte ich unmöglich ablehnen. Und mir wäre auch was entgangen. Nicht nur, dass wir mal wieder richtig ausgiebig quatschen konnten, der Fan-Raum war auch erste Sahne, und die Fans feierten hier ausgelassen den Sieg gegen den Stadtrivalen.

Als die Geisterstunde überschritten war, bekam ich von Chris noch eine kleine Stadtführung und lernte dabei auch das Gänseliesel kennen. Zum Abschluss gönnten wir uns einen Döner, ehe jeder sein Bett aufsuchte.

Ich hatte meine Socken völlig kaputt gelaufen und am nächsten Morgen einen brutalen Muskelkater.

Die Rückfahrt nutzte ich, um ein bisschen an den Bildern zu arbeiten.

Als ich den Ordner mit den Fotos öffnete, dachte ich kurz, mein Laptop würde brennen. So viele Pyrobilder hatte ich schießen können.

Kurz bevor ich von meiner Frau und dem Sohnemann am Bahnhof abgeholt wurde (war ja schließlich Vatertag), dachte ich nochmal über den 1. SC Göttingen nach: Der Verein ist eine Mischung aus familiärem Umfeld wie eben in der Landesliga und Strukturen wie sie ein Drittligist aufweist. Es ist schwer zu beschreiben, aber als Fußballfan fühlt es sich hier einfach richtig an. Ob es die Fans sind, die den Support für ihren Club zu einhundert Prozent leben oder Kicker der ersten Mannschaft, die nach dem Derbysieg auf ein Bier in den Fan-Raum kommen.

Und ich denke, wenn mich das nächste Mal jemand fragt, ob ich Fan vom 1. SC Göttingen bin, würde ich das schon bejahen.

Tausend Dank an Chris und den ganzen Verein für dieses tolle Erlebnis.

der Kutten König

Aufrufe: 010.5.2024, 17:49 Uhr
Jörn KutschmannAutor